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Symbolik §58

§58. Die Kirche

Die Aussagen der lutherischen Symbole und der Reformatoren über die Kirche müssen so geordnet werden, dass man drei Gesichtspunkte unterscheidet unter denen ihnen die Christliche Kirche in Betracht kommt sofern sie nämlich 1) Gegenstand des Glaubens und der Glaubenserkenntnis ist, sofern sie 2) sich als sittliche Gemeinschaft darstellt, und sofern sie 3) Rechtsordnungen besitzt.

1) Die Kirche sofern sie Gegenstand des Glaubens ist, ist die Gemeinschaft der Heiligen, d.h. der Wahrhaft-Gläubigen, die durch die göttliche Kraft des Evangeliums (Wort und Sakrament) gewisslich hervorgebracht und zugleich an Wort und Sakrament als an sichtbaren Merkmalen durch den Glauben erkannt werden. Dieser Kirche gelten die Praedicate der Heiligkeit um ihrer Verbindung mit Christus willen und der Einheit um der Identität des Glaubens willen. Nur das Evangelium und Glaube begründen die Einheit, alle übrige Traditionen und Gebräuche sind in diesem Zusammenhang gleichgültig.

Diese Kirche ist nicht das Produkt der einzelnen, so dass sie immer wieder aufs neue durch den einzelnen ergriffen und zustande käme, sondern umgekehrt sie ist die Mutter in der allein der einzelne zum Glauben kommt und einen christlichen Charakter erwirbt. (Die soziale Bedeutung als Verbum praedicatum als alle Bekehrung begründend). Die Unsichtbarkeit dieser Kirche ist nach dem gesagten eine relative, d.h. wer ihre Existenz feststellen will an politisch-rechtlichen Merkmalen oder auch an sittlichen Eigenschaften findet sie überhaupt nicht mit Sicherheit, der aber findet sie und dem ist sie sichtbar, der auf die Kraft des gepredigten Wortes Gottes vertraut. Die Bekenntnisse urteilen, dass es [190] der Romanismus zu einer empirisch sichtbaren Kirche bringt aber einer falschen und die Schwärmerei zu gar keiner Kirche. Sie urteilen aber weiter, dass Romanismus und Schwärmerei im tiefsten verwandt sind, sofern sie an äusseren Merkmalen die Gewissheit und Wahrheit der Existenz der Kirche Christi ad oculos demonstrieren wollen.

Conf. Aug. art. VII, VIII, XIV. Apol. 152f. Gr. Kat. 455ff. art Smalc. III 12.

Es ist äusserst wichtig, dass die Reformatoren die dreifache Scheidung im Kirchenbegriff machen, für diese ist der VII art. der Conf. Aug. klassisch, es fehlt höchstens die Betonung der fides.

Die katholische Polemik behauptet immer, es sei eine unsichtbare Kirche, die gar nicht zu erkennen, also auch nicht vorhanden sei. Kein Christ wird sagen, dass er mit Sicherheit von sich behaupten könne, er trage an sich das Zeichen der Kirche Christi an sich. Die Katholiken berufen sich auf den hierarchisch-doctrinalen Organismus, der als solcher auch nicht ganz sichtbar ist. In der That ruht die Sichtbarkeit in der Politik, der Regierungsgewalt. Die Donatisten und Schwarmgeister fassen die Kirche als Produkt von Gläubigen, die an ihrem Wandel der Welt als Christen offenbar sind. Sonach ist die Kirche unsichtbar für empirische Merkmale, für Leute, die ausser ihr stehen. Der Glaube aber weiss, dass er aus einer Gemeinschaft heraus geboren ist. Die Kirche ist die Mutter der Gläubigen, man weiss sich von Gott berufen, aber vermittelt durch eine Person (concatenatio personarum; praedicatio). So ist die Kirche für den Glauben erkennbar. Wo das Wort Gottes gepredigt und das Sakrament gespendet wird, da glaubt man eine Wirkung und kräftige Fortpflanzung. So sagt Schleiermacher falsch: im Katholizismus kommt der einzelne durch die Kirche zu Christus, im Protestantismus durch Christus zur Kirche. Allerdings ist Gott [191] der wirkende, aber doch vermittelt durch die Gemeinschaft. Das ist der Unterschied zwischen echt katholischem und sektiererischem Christentum. In qua evangelium recte docetur wird verschieden gefasst. Kliefoth besonders fasst es von der reinen Lehre in vollem Umfang, dagegen Ritschl, Ztschrift f KG. Bd. I: »das Evangelium nach dem reinen Verstand«, ähnlich in früheren Schriften. Daher Ritschl: das Evangelium auf seinen Kernpunkt zurückgeführt. Auch das ist nicht richtig: für Luther gab es das Dilemma überhaupt nicht; er sah in den von ihm entwickelten articuli fidei die richtige Auffassung des Evangeliums, den Inhalt des Glaubens, für den er qualitativ ein neues eingeführt hatte. Melanchthon aber besonders seit [15]43 sagt nun, die Kirche sei gegründet auf alle Artikel der reinen Lehre. Damit ist Luthers naiver Standpunkt schulmässig verändert und verschlechtert, denn die doctrina fidei ist immer Menschenwerk und daher nicht sowohl Grund, als Antwort des Glaubens. Melanchthon kam dazu im Gegensatz zur katholischen Polemik, welche die Unsichtbarkeit der Kirche angriff, im Streben zum Abschluss der evangelischen Partikularkirche, nachdem er den Riss als unheilbar erkannt hatte. Schon bei den Epigonen findet sich nun der Gedanke, das Luthertum sei die wahre Kirche, ein dogmatischer Satz der Orthodoxie, der heutzutage auch erweicht ist. In die Symbole ist diese doctrinale Form nicht eingedrungen. FC 10.5, 553 giebt nur eine Wendung.

2) Die Kirche hat aber auch sichtbare Merkmale und ist nicht nur Glaubensgemeinschaft (Apol. 152 principaliter est societas fidei, andererseits ecclesia non est tantum societas externarum rerum). Sofern nun der Kirche sichtbare Merkmale zukommen, ist sie nicht Gegenstand des Glaubens, wohl aber Gegenstand der praktischen Verpflichtung im Sinne einer sittlichen Nötigung, Denn jene Merkmale (Kultusgemeinschaft, Liebesgemeinschaft, überhaupt gemeinsame Arbeit auf den [192] verschiedenen Gebieten) bilden ein unumgängliches Mittel für den Bestand und die Fortsetzung der Gemeinschaft der Gläubigen. Da religiöse Wirkungen überhaupt nur so fortgepflanzt werden, dass sich sittliche Gemeinschaften bilden, welche sie überleiten. Das Werden der Kirche als sittliche Gemeinschaft ist also notwendiges Mittel für die Erhaltung der Gemeinde der Heiligen. Ihre politischen Merkmale als sittliche Gemeinschaft hat die Kirche vor allem aber an der Ordnung des Unterschiedes von ministerium evangelii und Gemeinde. Das Amt ist nach evangelischen Grundsätzen iure divino sofern die Ordnung iure divino ist, nach der alles sittliche religiöse Leben in Form gegliederter Gemeinschaft und Erziehung sich ausprägt. Das Amt gehört aber nicht in den dogmatischen Begriff von der Kirche hinein, weil die Kirche als Gegenstand des Glaubens keine religiöse Unterschiede und Abstufungen in sich zulässt. Dass die Aufgabe des Amtes keine Jurisdictio sein kann, sondern nur Verkündigung und Anwendung des Wortes Gottes folgt aus dem religiösen Begriff der Kirche.

Die Kirche ist ausserhalb des Glaubens erziehende Gemeinschaft. Die Reformatoren sehen dies nicht für das Wesen an, aber auch nicht für etwas beiseitezuwertendes. Jeder hat seine Pflicht gegenüber derselben, nur durch sie wird der Geist und Glaube vermittelt. Der entscheidende Unterschied von anderen Ordnungen ist das ministerium evangelii (ministerium divinum art IV). Die Kirche als Glaubensbegriff hat Wort und Sakrament in ihrer Mitte. Damit dies besteht, ist das Amt verordnet, nicht als direkt von Gott gesetzt über die Gemeinde, dem sie schlechthin Gehorsam schuldig ist. In den Begriff der Kirche als Glauben gehört das allgemeine Priestertum, in den Begriff der Kirche als sittliche Anstalt gehören Personen, die Wort und Sakrament verwalten. Der Amtsterm gehört erst in [193] die dritte Kategorie. Von einer Fortpflanzung der apostolischen Amtsgnade weiss die Reformation nichts.

Alle hierarchischen Grade kommen in Wegfall, es giebt nur das eine Amt des ministerium evangelii. Die Function dieses Amtes kann keinen andern Spielraum haben als die Verkündigung des Evangeliums und Anwendung in der Zucht, die aber nicht in weltliche Angelegenheiten übergreifen darf. Wir haben keine Kirchenzucht mehr, aber auch nicht die Gefahren dieser Institution bei einer Landeskirche. Wir müssen uns wesentlich auf die Ankündigung der Absolution und {?} beschränken.

3) Aus dem Bestand der Kirche als geschichtliche und gegliederte sittliche Gemeinschaft ergiebt sich weiter, dass die Kirche auch unter dem Gesichtspunkt einer Rechtsgemeinschaft aufgefasst werden kann und muss. Kultur Bekenntnis Verfassung Sitte sind auch kirchliche Rechtsordnungen und sofern sie den Begriff der Gemeinschaft bestimmen, gehören multi hypocritae et mali zur Kirche, die unter der Voraussetzung, dass ihr Zustand ein definitiver weder in den dogmatischen noch in den ethischen Begriff der Kirche eingeschlossen werden können. Sofern die Pflege der Rechtsordnungen einer Gemeinschaft dem Bestande derselben förderlich ja nötig ist, sind die Glieder der Gemeinschaft zu ihr verpflichtet, aber weder dürfen die Rechtsordnungen die Verkündigung des Evangeliums und Bewusstsein der Einheit der Gläubigen hemmen, noch duldet die christliche Freiheit die Auflage solcher Ordnungen im Sinne einer religiösen Verpflichtung. Vor allem fällt das gesamte Gebiet der Verfassung unter den Begriff der äusseren Rechtsordnung; allerdings kann unter geschichtlichen Umstanden der Gebrauch gewisser Ordnungen die Bedeutung eines Bekenntnisses oder einer Verleugnung erlangen.

[194] Die Schwarmgeister wollten entweder keine Ordnungen oder ganz neue oder ängstlich an die Schrift angelehnte. Die lutherische Reform sagt: Ordnung ist nötig, die alte ist als geschichtliche zu wahren, derweil sie der evangelischen nicht zuwider. Selbst antipathische sind anzunehmen, wenn dadurch jemand für das Evangelium zu gewinnen ist. Wir dürfen aber von keiner Ordnung und Ceremonie behaupten, daß sie heilsnotwendig sei und unter diesem Titel dürfen wird sie uns nicht auflegen lassen. Jede Gemeinde hat das Recht sich ihre Ordnungen auf dem Grund des Evangeliums zu bilden, sie soll dabei die Grundsätze der Geschichtlichkeit und Freiheit wirken lassen und alles entfernen, was das Evangelium hemmt. Das Gebiet ist adiaphoron, nicht Glaubensartikel und nicht zum divium ministerium gehörig. Aber auch ein adiaphoron kann Verläugnung oder Bekenntnis werden, das zeigte sich besonders im Interim.

Die Religion, das geistigste des Menschen, verrät auch auf den höchsten Stufen das Bestreben sich an äusseres anzuschliessen und dies erst als Symbol, dann als Vehikel zu betrachten. Fl. de adiaphoris. Ein adiaphoron kann relativ bedeutungsvoll werden.

Bei Calvin ist es klar, dass er von der confessio Augustana gelernt hat: Die Kirche ist Gemeinschaft des Glaubens. Die Praedestinationslehre aber und die Lehre von der Herrschaft des Gesetzes Christi ändert hier etwas. Ecclesia est societas praedestinatorum braucht er mit den Lutherischen gleichbedeutend. aber zur societas praedestinatorum gehören auch die noch nicht Gläubigen und die nicht, welche eben glauben, aber ohne das donum perseverantiae wieder aus der Kirche entfallen. Es kommt auch nie zu einer Summe sondern nur zu einem Aggregat von Einzelnen, die ihren Einheitspunct nur im ewigen Dekret haben, daher der Independentismus und Individualismus. [195] Bei Calvin ist aber doch der Glaubensbegriff übergeordnet der Praedestination, welche erst bei Beza zur völligen Herrschaft gelangt.

Luthers Auffassung der Kirche ist so sublim, dass corruptio optimi pessima ist. Daher Calvin neben den Glaubensbegriff den Gedanken der Kirchenzucht in den Kirchenbegriff aufnimmt. Er verbindet allerdings beide ganz organisch, die Kirchenzucht ist nur Ausübung und Anwendung der Praedicatio. Aber durch die Einmischung des Sündenbegriffs und Zuchtbegriffs verliert der Kirchenbegriff als göttliche Institution. Calvin hat dadurch große Kraft und hat ein tüchtiges evangelisches Volk erzogen. Die reine Lehre muss oft etwas hineinnehmen in die Praxis, was in der Theorie keinen Platz hat. Aber das rächt sich schon durch Einschleichen von Pietismus und Mönchstum. Die Freiheit ist nicht nur Zugabe, sondern die Sphäre einer sich gesund entwickelnden Religion. Das Luthertum hatte es allerdings praktisch viel schwerer das Volk aus dem Katholizismus herüberzuführen. Der Idealismus Luthers ist nicht praktisch, aber doch festzuhalten.

Zwingli hat sich in seinem Kirchenbegriff vollkommen an Wikliff und Hus angeschlossen: Die Kirche ist die unsichtbareGemeinschaft der Praedestinierten. Annähernd lässt sich diese verwirklichen in theokratischer Form durch Aufrichtung der lex divina. Wicliff und Hus lassen daneben noch ein göttliches Priesteramt bestehen. So versuchte er den Staat Zürich zur wirklichen Kirche Christi umzugestalten.

Verhältnis von Kirche und Staat (Zusatz).
Nach dem Grundsatz Luthers im Gegensatz zur katholischen Vorstellung ist die Obrigkeit Gottes Ordnung auch abgesehen von ihrem Verhältnis zur Kirche und zwar ist sie die Gottesordnung, welche das gesamte Gebiet der weltlichen Dinge [196] allein zu bestimmen mithin alle Rechtsordnungen zu bestätigen hat, der man um des Gewissens willen Gehorsam schuldig ist. Da Luther nun die Kirche ausschliesslich als Gemeinschaft des Glaubens fasst, deren Zweck die Seligkeit, deren einziges Mittel die Predigt des Evangeliums ist (incl. Sakramente), so erkennt Luther die Möglichkeit nicht an, dass Kirche und Staat in Konflikt kommen können ausser wenn der Staat die Predigt des Evangeliums hindert oder wenn die Kirche eigenmächtig ihre Rechtsordnungen für solche erklärt die der Kontrolle des Staates nicht unterliegen. Luther ist im Grunde für ein vollkommenes schiedlich friedlich. Wenn er selbst die Staatsgewalt zur Einführung einer Reformation aufgerufen und ihr das Recht zu solcher Reformation zugesprochen hat, so sah er darin selbst ein Handeln aus einem Notstande heraus (weil Papst und Bischöfe nichts thun wollten und die christliche Gemeinde sonst keinen Mund hatte) er hielt sich aber für berechtigt, das Reich aufzurufen, weil das Reich sich freiwillig von Constantin und Iustinian her als ein christliches bekannt hatte. Dagegen gingen die deutschen Fürsten, welche eine Reformation einführten, in der Regel von der mittelalterlichen Anschauung (14. oder 15. Jahrh.) aus die auch Zwingli teilte, dass die landesherrliche Obrigkeit nicht nur im Notfall sondern überhaupt das Recht habe die kirchlichen Verhältnisse ihres Gebietes zu ordnen.

Die symbolischen Bücher der lutherischen Kirche halten sich streng an Luthers Meinung und bleiben bei der Scheidung von Kirche und Staat, erkennen aber auch den Notstand an, der die Landesobrigkeit berechtigt und verpflichtet der Kirche zeitweilig den Liebesdienst zu thun ihr zu einer Reform zu verhelfen. [197] Luther dachte sich die Sache leichter als sie wirklich ist. Die Kirche ist nicht nur Gemeinschaft der Gläubigen, sondern auch Erziehungsanstalt.

Zwingli und Calvin gingen von dem Gedanken aus, dass auch die weltliche Obrigkeit letztlich keinen höheren Zweck haben könne als die wahre Religion aufrechtzuerhalten und dem Evangelium zu dienen, wen auch Calvin die volle Selbständigkeit des Staates in den politisch rechtlichen Grenzen in thesi nicht in Zweifel zog. Indem sie beide Staat und Kirche in ein positives Verhältnis stellten, haben sie den richtigen Gedanken behauptet, dass beide nicht gegeneinander völlig gleichgültig sein können aber frühzeitig hat sich hier die Tendenz eingestellt auf theokratische Kirchenbildungen die den Staat zu absorbieren oder zu unterjochen oder den ungefügen zu bekämpfen drohen. Unter geänderten geschichtlichen Verhältnissen ist der Calvinismus folgerecht in eine pietistische Unterschätzung des öffentlichen Staats- und Rechtslebens umgeschlagen.

Der Staat hat keine höhere Aufgabe als die Seligkeit des Einzelnen das ist eine der katholischen sich stark annähernde These. Bei Calvin allerdings hat der Staat eine gewisse selbständige Sphäre, aber er hat doch nicht den vollen Respect dieser gegenüber. So kam es auch in Genf zu einer praktischen Theokratie. In anderen Ländern aber musste der Staat als unheilige Macht bekämpft werden (so in Frankreich die Hugenotten). Beim Erlahmen des Calvinismus und Erstarken des Staates zeigte sich die Erscheinung, dass man die ganze Rechtssphäre zurückwies, als nicht christlich. Das ist ein ganz unlutherischer Zug des Pietismus.


Literatur

Albrecht Ritschl: Die Entstehung der lutherischen Kirche, in: ZKG 1 (1877) 51-110; 2 (1878) 366-385

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