Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

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DFG-Projekt zu Friedrich Schleiermachers Vorlesungen über Christliche Sittenlehre

© Schleiermacher-Gesellschaft

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Projektverantwortliche an der MLU Halle-Wittenberg

Prof. Dr. Jörg Dierken

Dr. Karl Tetzlaff

Projektbeschreibung

Die Vorlesungen zur „Christlichen Sittenlehre“ von Friedrich Schleiermacher (1768-1834) gehören zu den einflussreichsten Arbeiten des „Kirchenvaters des 19. Jahrhunderts“. Allerdings kam Schleiermacher zu seinen Lebzeiten nicht dazu, seine bahnbrechenden Überlegungen auszuarbeiten und in Buchform vorzulegen. Bis zur Stunde behilft man sich mit der Edition von Schleiermachers Schüler Ludwig Jonas, der im Jahr 1843 studentische Vorlesungsnachschriften aus dem Wintersemester 1822/3 zusammen mit den (knappen) Manuskripten Schleiermachers vorgelegt hatte. Hermann Peiter hatte im Jahr 2011 eine Kompilation von drei Vorlesungsnachschriften aus dem Wintersemester 1826/27 vorgelegt.

In diesem von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderten Langzeitvorhaben wird diese Leerstelle geschlossen. Vier Forscherinnen und Forscher der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften (BBAW, Dr. Sarah Schmidt), der Humboldt-Universität zu Berlin (HU, Prof. Dr. Notger Slenczka), der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg (MLU, Prof. Dr. Jörg Dierken) und der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster (WWU, Prof. Dr. Arnulf von Scheliha) arbeiten mit ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern an der ersten vollständigen Ausgabe dieser Vorlesungen. Die DFG fördert das Projekt für maximal zehn Jahre mit bis zu 2,8 Millionen Euro.

sittenlehre

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Wie viele andere Gelehrte seiner Zeit erzielte auch Schleiermacher einen Großteil seiner Wirkung über seine akademischen Vorlesungen und nicht über Publikationen. Schleiermacher hielt diese Vorlesung zwölf Mal. Aus seiner eigenen Hand sind jedoch nur Fragmente erhalten: ein Kollegheft, Marginalien, Extra-Zettel, Notizen und weitere Anmerkungen. Daneben gibt es sehr umfangreiche Konvolute von studentischen Mitschriften aus den vielen Semestern, in denen Schleiermacher die Vorlesung gehalten hat. Alle Texte werden nun im Rahmen dieses Projektes durch Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Schleiermacher-Forschungsstelle an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften    entziffert, ediert und zunächst digital publiziert. Nicht wenige von ihnen werden auf diese Weise erstmals zugänglich. Damit wird auch die Weiterentwicklung von Schleiermachers Denken über drei Jahrzehnte hinweg dokumentiert. Für die inhaltliche Erschließung werden aufwändige Tools entwickelt (Digital Humanities). Die Texte erscheinen auf der von der BBAW betriebenen elektronischen Plattform schleiermacher-digital, auf der bereits Schleiermachers Korrespondenz, seine Tageskalender und weitere Vorlesungen aufgeschaltet sind.

An den Standorten in Berlin (HU)   , Halle (MLU) und Münster (WWU)    erfolgt die begleitende fachliche Forschung. Was Immanuel Kant für die Philosophie ist, das ist Friedrich Schleiermacher für die Theologie. Aber auch in der Philosophie, der Pädagogik oder der Kunst gehört er zu den einflussreichsten Autoren seiner Zeit. Er knüpfte an die grundlegenden Ideen der Aufklärung an, durchdachte sie auf dem Niveau der idealistischen Philosophie und bezog sie auf die Gebiete der Theologie und des Christentums. Dabei wurden die ethischen und sozialtheoretischen Implikationen seiner christlichen Ethik bisher wenig beachtet, obwohl sie sehr bedeutsam sind. Schleiermacher entwickelte in seinen Vorlesungen die Idee einer Ethik, die das moralische Verpflichtet-Sein des Menschen nicht normativ vorgibt, sondern als zwanglose Handlungsimpulse, die aus dem christlichen Glauben erwachsen, beschreibt. Dabei hat er weniger die einzelnen Personen vor Augen als das Zusammenspiel gesellschaftlicher Institutionen, deren Zusammenwirken den Geist der christlichen Religion verwirklicht. Damit führt er in dieser Vorlesung das Programm einer Verbindung von Christentum und Gegenwartskultur durch und bietet damit ein Modell zur Selbstverortung der christlichen Religionsgemeinschaften in modernen Gesellschaften.

Das an der Theologischen Fakultät der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg beheimatete Forschungsprojekt von Dr. Karl Tetzlaff fokussiert das besondere Theoriedesign und zentrale Leitbegriffe der Christlichen Sittenlehre und erörtert dies einerseits vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Theoriekontexte und Debattenlagen. Andererseits wird nach den Aktualitätspotenzialen von Schleiermacher theologischer Ethik gefragt. Verbindungen zur Gegenwart ergeben sich vor allem daraus, dass die „Christliche Sitte“ als Versuch eines produktiven Umgangs mit Herausforderungen gelesen werden kann, die aus gesellschaftlichen Modernisierungsprozessen resultieren. Unbeschadet all dessen, was uns von Schleiermachers Welt trennt und dementsprechend daran antiquiert erscheint: Es ist auch das Dokument einer historischen Übergangsphase – Stichwort: Sattelzeit (Koselleck) –, in der soziale, kulturelle und mentale Modernisierungsprozesse an Fahrt gewannen, mit deren bis zum heutigen Tage zu bewältigenden Auswirkungen schon Schleiermacher und seine Zeitgenossen intensiv befasst waren. Als immer noch aktuelle Stichworte lassen sich Individualisierung, Rationalisierung und Differenzierung nennen. Damit sind Entwicklungsphänomene anvisiert, die mit den großen Umwälzungen des ausgehenden 18. Jh. (Aufklärung, Frz. Revolution, Übergang zur fabrikmäßigen Industrie mit hoher Arbeitsteilung etc.) in Zusammenhang stehen und deren ambivalente Folgen um 1800 – und darüber hinaus – eingehend diskutiert wurden. Dabei ging es um die Frage nach tragfähigen Gemeinschaftsformen angesichts des Geltungsverlusts traditioneller Verbindlichkeitsmuster und angesichts der Schattenseiten des individuellen Freiheitsdranges, wie sie die revolutionären Gewalteskapaden zu Tage befördert hatten. Es ging um die Frage nach einer Dimension menschlichen Lebens jenseits des auf Zweck und Nutzen getrimmten bürgerlichen Leistungsdenkens. Schließlich ging es um die Frage nach einer funktionale, soziale oder kulturelle Differenzen übergreifenden gesellschaftlichen oder auch menschheitlichen Einheit. All diese Fragen, die aus romantischen, idealistischen, konfessionalistischen, frühkonservativen, erwecklichen etc. Perspektiven thematisiert wurden, spielen auch in Schleiermachers Werk und insbesondere in der Christliche Sittenlehre eine zentrale Rolle. Deren besonderes Potenzial kann darin entdeckt werden, dass sie die angedeuteten Ambivalenzen des Modernisierungsprozesses nicht einseitig zu überwinden versucht, sondern stets auf „die Ausgleichung der sich gegenseitig aufhebenden Ansprüche“ zielt. Individualität und Sozialität werden ebenso wenig gegeneinander ausgespielt wie die zweckorientierten Handlungssphären in Arbeit, Familie, Kirche und Staat mit dem Ideal einer zweckfreien religiös-ästhetischen Gegenwelt konfrontiert werden und umgekehrt. Religion, zumal in ihrer kirchlich-institutionellen Form, bildet ebenso eine eigene Sphäre im gesellschaftlichen Leben wie sie in die relativ autonomen Bezirke ihrer sozialen Umwelt auszustrahlen und ihre Gehalte in die Sprache der allen einsichtigen Vernunft zu übersetzen vermag. In all diesen Zusammenhängen ergeben sich Querbezüge zu Schleiermachers übrigem Werk und zu zeitgenössischen Positionen, auch zu solchen, man denke an Hegel, die in vielen Punkten ähnliches angestrebt haben. Zugleich lassen sich hier Gegenwartsbezüge herstellen, was neben der theorie- und sozialgeschichtlichen Kontextualisierung und Profilierung von Schleiermachers Werk ein zentraler Aspekt dieses die Editionsarbeit begleitenden Forschungsprojekts ist.

Im Projekt von Prof. Dr. Jörg Dierken geht es darum, vor dem Hintergrund der theoretischen Grundintuitionen von Schleiermachers Christlicher Sittenlehre und philosophischen Ethik sowie von Hegels Theorie des objektiven Geistes ethische Orientierungen für heutige soziale und kulturelle Herausforderungen zu entwickeln. Im Zentrum stehen nicht historische oder ideengeschichtliche Forschungen, sondern die systematische Beschreibung zentraler Handlungsfelder des individuellen und sozialen Lebens in der weithin säkularisierten Welt in christlich-religiöser Perspektive. Von Schleiermacher aus lassen sich zudem Linien zu modernen soziologischen Systemtheorien ziehen, deren Einsichten ebenfalls in das Projekt einfließen.

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