Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

Weiteres

Login für Redakteure

Evangelische Theologie

Evangelische Theologie

Am 15. November 1899  tagte in Berlin »Die kirchlich-theologische Konferenz für die Provinz Brandenburg« erstmals öffentlich. Im Bericht über diese Tagung in der »Chronik der Christlichen Welt« (9 (1899) 494-500) heißt es: »Die Konferenz war von etwa zweihundert Personen, darunter viele Laien und einige Damen, besucht« (aaO. 500). Drei Referenten waren geladen und hatten ihrem Referat jeweils Leitsätze vorangeschickt über die Themen »Der evangelische Glaube« (Julius Kaftan), »Die evangelische Kirche« (Hermann Scholz) und »Die evangelische Theologie« (Adolf Harnack). Gegenüber Martin Rade zog Harnack (am 19.11.) folgendes Fazit: Die Conferenz verlief nicht schlecht - was wir erwarten durften, erfüllte sich -, aber auch nicht besonders glänzend. Kaftan's und Scholz's Vorträge waren gut. Gesagt wurde, was gesagt werden mußte, in klarer nachdrücklicher Weise, aber ohne Polemik. Das Weitere müssen wir abwarten (Der Briefwechsel zwischen Adolf von Harnack und Martin Rade, hg. von Johanna Jantsch. Berlin / New York 1996, 440f).

Harnacks Leitsätze sind später in erweiterter Form zum Druck gelangt in F. Koehler (Hg): Frei und gewiß im Glauben. Beiträge zur Vertiefung in das Wesen der christlichen Religion. Berlin 1909, 1-3. (auch in: Adolf von Harnack: Das Wesen des Christentums, hg. von Cl.-D. Osthövener. Tübingen 2005, 187f).

Im Folgenden werden zunächst die Leitsätze nach dem Abdruck der »Chronik« wiedergegeben (aaO. 495), sodann der Bericht der »Chronik« über Harnacks Referat (aaO. 499) und sein Schlußwort in der anschließenden Diskussion (aaO. 500) sowie schließlich die erweiterte Form der Leitsätze in der Druckfassung (ein Manuskript der Leitsätze befindet sich im Nachlaß Harnacks in der Staatsbibliothek Berlin - Preußischer Kulturbesitz, Kasten 13, Nr. 18). Vorweg stehe jedoch der Beitrag Harnacks zur Diskussion der ersten beiden Vorträge:

»Professor D. Harnack bezeichnete als die Aufgabe der Konferenz, Klarheit zu schaffen über die einzelnen Faktoren der christlichen Weltanschauung, sowie über ihren Spielraum, über die Fragen: Was ist Glauben? Was ist evangelische Kirche? Welchen Spielraum soll die Kirche, welchen der Einzelne haben? Was ist evangelisches Bekenntnis seinem Wortlaut und seinem Kerne nach? Wo diese Faktoren in wesentlicher Übereinstimmung von einer Gemeinschaft festgehalten werden, da ist das Maß dessen, was man als Gemeinschaft leisten kann, erreicht; und es beginnt nun die Arbeit des Einzelnen, die sich in zwei Prozessen vollzieht: dem inneren, den jeder nach dem Maße seiner Kenntnis und seiner Individualität durchzumachen hat, und in dem geschichtlichen Werden, bei welchem ein Altes fällt und ein Neues an dessen Stelle tritt.«


Die evangelische Theologie

  1. Die evangelische Theologie ist die Wissenschaft von der christlichen Religion im Sinne einer freudigen Wertschätzung des Evangeliums und seiner durch die Reformation begründeten Erneuerung. Darum ist sie das intellektuelle Gewissen der evangelischen Kirchen.
  2. Die Hauptaufgaben der evangelischen Theologie in der Gegenwart sind folgende:
    • sie soll ihren im Prinzip anerkannten wissenschaftlichen Charakter schützen und an allen Punkten bewähren;
    • sie soll geschichtliche Wissenschaft sein, aber der Geschichte nicht das letzte Wort lassen;
    • sie soll wissen, daß sie es mit einem eigentümlichen Leben zu tun hat, aber sie soll auch nicht vergessen, daß sie dieses Leben nur an seinen Hervorbringungen zu erkennen und zu beurteilen vermag;
    • sie soll das Christentum im Zusammenhang mit den anderen Religionen würdigen, aber eingedenk bleiben, daß Vergleichungen auch verwirren;
    • sie soll sich nicht in die kirchlichen Kämpfe des Tages verstricken, aber jedem ernsten Christen, der durch Wahrheit zur Freiheit strebt, zur Seite stehen.

»Professor D. Harnack führte im Anschluß an seine Thesen aus, die Wertschätzung des Evangeliums und der Reformation sei das Band, das die evangelische Theologie mit der Kirche verbinde, und zwar genau genommen: das einzige Band. Denn in allem übrigen sei sie von Kirchen und Kirche unabhängig. Ihre Aufgabe ist nicht nur die, das Christentum zu erforschen und immer klarer, sicherer und vollständiger darzustellen, was eigentlich das Evangelium ist und gewesen ist, sondern auch, im Christentum zu unterrichten, eine pädagogisch-didaktische Aufgabe. Dazu muß sie ihren wissenschaftlichen Charakter wahren, d.h. es darf für sie nicht irgend ein Wunsch, eine fertige Vorstellung, eine Autorität maßgebend sein, sondern allein die Wirklichkeit. Sie darf sich die Freiheit nicht nehmen lassen, jede historische Thatsache zu prüfen und neue Betrachtungsweisen, etwa die entwickelungsgeschichtliche oder psychologische, in ihren Betrieb einzuführen. Als geschichtliche Wissenschaft kommt sie nie auf etwas Absolutes heraus, sondern nur auf relative Werte, und muß sie die Entstehung und Entwickelung der Dinge aus vorangegangenen Thatsachen erkennen lehren. Die Geschichte aber hat nicht das letzte Wort. Denn sie kann die Fülle und Kraft der Erscheinungen nur unvollkommen wiedergeben und hat ihre Schranke am Geheimnis des persönlichen Lebens, und schließlich ist unser Verständnis und unsere Wertschätzung der Dinge für uns das Höchste. - Bei dem Vergleich mit anderen Religionen ist Behutsamkeit so nötig, weil Vergleichungen nur dann richtige Resultate liefern, wenn die verglichenen Größen auf gleicher Höhe stehen, was bei den Religionen nicht der Fall ist. Es ist nicht zu bestreiten, daß die Theologie in einem gewissen Gegensatz zu dem Bekenntnis der Mehrheit in der Kirche steht. Sie muß dahin wirken, daß im Leben der Kirche zum Ausdruck kommt, was sie als sicher erkannt hat. Sie darf nicht schweigen, wenn die anerkannte Wahrheit in der Kirche verfolgt wird, aber ihre Lage ist schwierig und wenig vermögend, weil sie keine Stelle in der organisierten Kirche hat.«

»Über das Verhältnis von Theologie und Kirche meinte Harnack in seinem Schlußworte der Hauptsache nach genug gesagt zu haben, insofern er der Theologie die pädagogisch-didaktische Aufgabe zugewiesen; wie sie diese anzuwenden habe, gehöre in die Kasuistik. Im übrigen sind seine eigenen Erfahrungen der Art, daß er nicht der geeignetste Mann sei, über sein persönliches Verhältnis zur Kirche des weiteren sich auszulassen. ›Ich liebe meine Kirche, ich arbeite für sie, aber ich spreche nicht über mein Verhältnis zu ihr‹.«


Die evangelische Theologie (Leitsätze)

Die evangelische Theologie, wie sie sich unter uns darstellt, ist die Wissenschaft von der christlichen Religion im Sinne einer freudigen Wertschätzung des Evangeliums und seiner durch die Reformation begründeten Erneuerung. Darum ist sie das intellektuelle Gewissen der evangelischen Kirchen.

Die Hauptaufgaben der evangelischen Theologie in der Gegenwart sind folgende:

  • Sie soll ihren im Prinzip anerkannten wissenschaftlichen Charakter schützen und an allen Punkten bewähren.
    1. Weder die Autorität noch das subjektive Bedürfen, sondern nur die Wirklichkeit hat die Erkenntnisse der theologischen Wissenschaft zu formen.
    2. Der wissenschaftliche Charakter der Theologie fordert, alles von Anfang an zu prüfen, bis zu Ende durchzuprüfen und keiner Untersuchung aus dem Wege zu gehen.
    3. Dabei sollen auch neue Betrachtungsweisen (psychologische, wirtschaftliche usw.) angewandt werden; [2] denn die Wissenschaft darf vor keiner Betrachtungsweise zurückscheuen, wenn sie Förderung der Erkenntnisse verspricht.
  • Die evangelische Theologie soll geschichtliche Wissenschaft sein, aber das bedeutet nicht, daß sie der kausalen Geschichtsbetrachtung überall das letzte Wort läßt.
    1. Die geschichtliche Betrachtung kann immer nur relative Werte schaffen und relative (abgestufte) Urteile fällen;
    2. sie muß solange erforschen d.h. ein Gegebenes aus den Vorstufen erklären, solange sie es nur irgend vermag (Prinzip der kausalen Entwicklung).
    3. Aber die »Persönlichkeit«, die in aller Geschichte ein großer Faktor ist, macht sich in der höheren Religionsgeschichte in besonders kräftiger Weise geltend. Die Persönlichkeit ist aber niemals ohne Rest aus den Vorstufen abzuleiten und hat außerdem in Anschauung und Gefühl, in Berufsbewußtsein und Tat ihr besonderes Geheimnis. Dieses hat der Historiker, nachfühlend und beschreibend, anzuerkennen, nicht aber zu eliminieren oder durch pseudokausale Erklärungen zu vernichten.
    4. Die relativen Urteile der Geschichte verwandelt Verstand und Gewissen auf den Höhepunkten zu subjektive-absoluten und wirbt für sie durch die Klarheit und Kräftigkeit der eigenen Überzeugung.
  • Die evangelische Theologie soll wissen, daß sie es mit einem eigentümlichen Leben zu tun hat, aber sie soll auch nicht vergessen, daß sie dieses Leben nur an seinen Hervorbringungen zu erkennen und zu beurteilen vermag.
    1. Wir können als Gelehrte und Forscher nur die Hervorbringungen beurteilen und schätzen; an die Sache selbst kommt nur der Genius nachschaffend heran. [3]
    2. Als Gelehrte und Forscher dürfen wir weder in Aperçus und Aphorismen noch in Dithyramben reden; wir brauchen zusammenhängende und klare Erkenntnisse.
    3. An ihren charakteristischen Hervorbringungen soll die theologische Wissenschaft das Christentum studieren. Die charakteristischen Hervorbringungen sind die Institutionen.
  • Die evangelische Theologie soll das Christentum im Zusammenhang mit den anderen Religionen würdigen, aber eingedenk bleiben, daß Vergleichungen auch verwirren.
    1. Dieser Satz ist gegen eine Überschätzung der allgemeinen Religionsgeschichte und Religionsphilosophie in ihrer Bedeutung für das Christentum gerichtet.
    2. In der Kunst, Ethik und Religion wird das Ideale niemals durch Abstraktionen gewonnen. Die Spitze der Pyramide ist die Hauptsache, nicht die Basis. Wer in Kunst, Ethik und Religion die Erscheinungen auf eine Fläche stellt, verwirrt sie.
  • Die evangelische Theologie soll sich nicht in die kirchlichen Kämpfe des Tages verstricken, aber jedem ernsten Christen, der durch Wahrheit zur Freiheit strebt, zur Seite stehen.
    1. Mit diesem Satze ist die pädagogisch-didaktische Aufgabe der theologischen Wissenschaft umschrieben;
    2. sie soll das von ihr mit Sicherheit Erkannte im Leben der Kirche zum Ausdruck bringen;
    3. so unangebracht ein Hineinmischen der theologischen Wissenschaft in die Tagesfragen ist, so darf sie doch nimmer schweigen, wenn die evangelische Wahrheit vergewaltigt und die Freiheit niedergehalten wird.

Zum Seitenanfang