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Goethe gegen Lessing

Geothe gegen Lessing

Adolf von Harnacks anonym (der Artikel ist mit (.), dem astronomischen Symbol für die Sonne, gezeichnet) veröffentlichte Auslegung eines berühmten Lessingwortes im ersten Jahrgang der »Christlichen Welt« (Nr. 2 vom 2.1.1887; damals noch unter dem Titel »Evangelisch-Lutherisches Gemeindeblatt«) nimmt Bezug auf einen Artikel in der Probenummer dieser Zeitschrift. Über diese schreibt er an Martin Rade am 23.11.1886 unter anderem: Am schwächsten ist: »Ein Wort Lessings« - ich meine, dieses Wort hätte eine eindringendere Behandlung verdient, wenn man es einmal anpackte. Ich finde es nicht kindlich fromm, und die Stimmung, aus der es geschrieben, ist die des noch jugendlichen Faust: »Der Trieb nach Wahrheit und die Lust am Trug.« Der Artikelschreiber hat ja in der 2. Hälfte ganz recht und hat es schön gesagt; aber es wäre wohl auch mehr zu sagen gewesen. Es wäre vor allem zu zeigen, daß das Wort, auch abgesehen von seiner Einkleidung, eine Unmöglichkeit voraussetzt. (Der Briefwechsel zwischen Adolf von Harnack und Martin Rade, hg. von Johanna Jantsch. Berlin / New York 1996, 187f).


Goethe gegen Lessing

»Wenn Gott in seiner Rechten alle Wahrheit und in seiner Linken den einzigen, immer regen Trieb nach Wahrheit, obschon mit dem Zusatze, mich immer und ewig zu irren, verschlossen hielte und spräche zu mir: Wähle! - ich fiele ihm mit Demut in seine Linke und sagte: Vater, gieb! Die reine Wahrheit ist ja doch nur für dich allein!«

Dieses Lessingwort hat in der ersten Nummer des Blattes eine Besprechung gefunden, deren sich die Leser noch erinnern werden. Das dort Gesagte in Ehren; doch bietet das Wort noch eine andere Seite, die des Nachdenkens wert ist.

Goethe läßt im Prolog zum Faust seinen Dichter die Sehnsucht nach jenen Zeiten aussprechen, da er noch selbst »im Werden war«. Die wunderbaren Verse, in denen die Jugend geschildert wird, haben ihren Höhepunkt in den Worten:

   Ich hatte nichts, und doch genug!
   Den Drang nach Wahrheit und die Lust am Trug.

»Der Drang nach Wahrheit und die Lust am Trug« - das ist doch wohl der Lessingsche »immer rege Trieb nach Wahrheit mit dem Zusatz, mich immer und ewig zu irren«. Gewiß, er ists; aber Goethe hat tiefer gegraben als Lessing, weil er das menschliche Herz besser kannte als jener. Die Stimmung, in welcher man so empfindet, wie Lessing empfunden hat, ist von Goethe als die Stimmung der Jugend bezeichnet. Aus dem Lessingschen »Zusatz des Irrtums« ist »die Lust am Trug« geworden, und der Besitz, den man in diesem Sturm und Drang wirklich hat, ist - nach Goethe - nüchtern und verständig angesehen, gleich nichts: man meinte zu haben, und es fehlte alles; es war so schön, und doch war nichts da.

Goethe gegen Lessing: in der That, schärfer konnte die Kritik nicht ausfallen, obgleich Goethe schwerlich an das Lessingsche Wort gedacht hat; aber wenn er ja einmal es zu kritisieren gehabt hätte - nicht als den Sehnsuchtslaut des Mannes, der wieder jung sein will, sondern als das Bekenntnis des gereiften Forschers - er hätte es wohl nicht milder beurteilt als sein eigenes verwegenes Wort: »Wenn ich dich lieb habe, was geht es dich an«. Goethe hätte seinen »Faust« nicht zu schreiben gebraucht, wenn die Lessingsche Entscheidung für den immer regen Trieb nach Wahrheit mit dem Zusatz ewigen Irrens ihm als die richtige erschienen wäre. Diese Stimmung hatte Faust hinter sich. Er hat als strebender Jüngling den Drang nach Wahrheit und die Lust am Trug auch gekannt und durchlebt; jetzt gilt es ihm um den Besitz der Wahrheit ohne Trug. Die Lust am Trug ist ihm zum Ekel geworden und der Mangel der Wahrheit zum Schmerz -

   Und sehe, daß wir nichts wissen können!
   Das will mir schier das Herz verbrennen.

[23] »Die Lust am Trug« - so redet Goethe; aber Lessing spricht wie wenn es sich um einen fatalen Zusatz handelt, um eine drückende Klausel, die man eben in den Kauf nehmen muß. Wer von beiden hat Recht? Ich glaube, die Entscheidung ist nicht schwer. Wer im Drange nach Wahrheit zufrieden ist, wenn er nur etwas findet, rastlos von Tag zu Tag, der freut sich an diesem etwas, auch wenn er morgen einsieht, daß es nichts war, was er gestern gefunden; denn der nächste Tag bring wieder ein etwas. Er kräuselt am Gewölke; aber der volle Mond dahinter hat gute Ruh. Die Wahrheiten, auf die er jenen einzigen, immer regen Trieb richtet, sind gar nicht die Wahrheit, und darum irrt er sich immer und ewig, auch wo er sich nicht irrt; denn seine Lust und sein Streben gilt jenen Wahrheiten, von denen Augustin gesagt hat, daß man sich im Irrtum befindet, wenn man nichts anderes besitzt als sie. Gewiß - es ist Lust am Trug, nicht nur Zusatz des Irrtums; man darf nur die Lust am Trug nicht in dem gemeinen Sinne nehmen, sondern als die Freude an den Hülsen statt am Kern, an Worten statt an Sachen. Und war Lessing ganz frei von dieser Freude? war in ihm das Streben nach der höchsten Erkenntnis ebenso lebendig, wie der immer rege Trieb, sich über tausend Einzelfragen zu belehren?

Nur die Wahrheit vermag frei zu machen und über die Welt zu erheben. Wer sie sucht mit dem Verzicht, sie zu finden, sucht sie so wenig, wie der wirklich liebt, dem es gleichgültig ist, geliebt zu werden. Das Lessingsche Wort hat dort sein Recht, wo es sich um das niedere Gebiet von Erkenntnissen handelt - es ist in der That genußreicher, diese Dinge kennen zu lernen, als sie zu kennen; aber es hat gar kein Recht, wo es sich um den Schatz handelt, ohne welchen unser Leben leer bleibt. Der unbestimmte Drang der Jugend nach Wahrheiten wird leicht befriedigt durch den Erfolg des Tages. Wohl war sie schön jene Zeit - aber je heftiger der Sturm und Drang gewesen, um so sicherer ist es, daß der ernste und herbe Wahrheitssinn sich einstellen wird. »Da ich ein Kind war, da redete ich wie ein Kind und war klug wie ein Kind und hatte kindische Anschläge. Da ich aber ein Mann ward, that ich ab, was kindisch war.«

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