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Glossen zu einem Rückertschen Gedicht

Glossen zu einem Rückertschen Gedicht

Seine Überlegungen zu einem Gedicht Friedrich Rückerts hat Harnack unter dem Pseudonym »Labes« in der Christlichen Welt (14.Jg.) vom 4. Januar 1900 veröffentlicht (S. 19f). Am 29.11.1899 schrieb er an Martin Rade: Ich würde Ihnen gerne sofort einen Beitrag schicken, aber ich habe momentan nichts, will aber bis zum Schluß des Jahres etwas senden. (Nachlaß Loofs, ULB Halle, Yi 19 IX 1457). Am 5.12.1899 heißt es dann: Drei Tage lang habe ich nach einem Stoff gesucht; denn ich habe nichts zu schreiben. Dann bin ich faut de mieux auf das Beiliegende verfallen und habe es, um mein Versprechen zu erfüllen, niedergeschrieben unter unsäglichen Störungen. (Der Briefwechsel zwischen Adolf von Harnack und Martin Rade, hg. von Johanna Jantsch. Berlin / New York 1996, 443). Es muß offen bleiben, ob diese Störungen auch für die mancherlei Abweichungen vom ursprünglichen Text Rückerts verantwortlich waren; dieser findet sich unten im Anschluß an Harnacks Text. Über seine Wertschätzung Rückerts berichtet Harnack: Mit Rückert ... verband uns von frühester Jugend die Freude an seinen Gedichten, die uns mein Vater stufenweise vorlas von den einfachsten bis zu den »Makamen«, »Nal und Damajanti« und ungezählten anderen. (Aus der Werkstatt des Vollendeten. Gießen 1930, 36f).

Der Text ist im Druck zugänglich in: Adolf von Harnack: Das Wesen des Christentums, hg. von Cl.-D. Osthövener. Tübingen 2005, 187f.


Glossen zu einem Rückertschen Gedicht

   1. Als wie der Mensch, so ist sein Gott, sein Glaube,
   Aus geistgem Aether bald, und bald aus Erdenstaube

Ist das nicht ein gefährlicher Satz, der die Wirklichkeit Gottes im Grunde aufhebt? Er wäre es, wenn Gott nur in unsern Gedanken lebte; aber das ist nicht gemeint. Gemeint ist, daß Jeder ihn nur so wahrzunehmen vermag, wahrnehmen muß, wie er selbst geartet ist. »Der Mensch schafft sich seinen Gott« - gewiß; er schafft ihn sich, wie sich ein Knecht seinen Herrn schafft; er schafft ihn sich, wie wir uns alle unser Geschick schaffen.

Es giebt nur zwei Götter - der aus »geistigem Aether«, und der »aus Erdenstaube«. Jesus hat diesen den »Mammon«, Paulus hat ihn »den Gott dieser Welt« genannt. Es ist der Gott an den sich die eine Seele hält mit klammernden Organen. Es ist der Gott, durch den wir die ganze Welt gewinnen möchten, und wirklich stehen ihm die Reiche dieser Welt und ihre Herrlichkeit zu Gebote. Der andere Gott ist der Geist, wo aber der Geist ist, da ist Freiheit.

   2. Doch doppelt ist der Gott, der Glaube doppelt auch,
   Hier selbstentkommner Trieb, dort überkommner Brauch.

Die Religion des überkommenen Brauches ist auch Religion. Wer nur auf sie schilt, der ist entweder ein Prophet - dann soll er schelten -, oder ein Unwissender, dann soll er schweigen. In Sitte und Pietät lebt auch Religion; ja Ehrfurcht zu haben vor der Religion anderer ist schon Religion.

Doch - wer darf von ihr sprechen ohne den »selbstentkommenen Trieb« zu kennen? Religion ist Leben und Freiheit in Gott, eigenes Leben und eigene Freiheit - kein Brauch kann sie ersetzen, wohl aber hält er sie oft genug nieder, ja erstickt sie. Also ist im Grunde eine Zweiheit. Das scheint ein hartes Problem zu sein.

   3. Das Eigenste wird nie ganz frei vom Angenommnen,
   Doch übt die Eigenheit ihr Recht am Ueberkommnen.

Hier ist der Ausgleich und darum die Lösung. Die Fackel haben wir nicht selbst entzündet; wir haben ihr Feuer geholt; es ist unsre Fackel und doch nicht unsre. In dem »Angenommenen« sind die heiligen Erfahrungen und Kräfte solcher beschlossen, die lebendiger und reicher waren als wir. Darum ists gut, daß das Eigenste nie ganz frei wird vom Angenommenen.

Aber die Eigenheit hat ihr Recht am Ueberkommenen zu üben, und dieses Recht ist Pflicht; denn das Ueberkommene erstarrt, wenn es unbewegt bleibt; es legt sich wie eine Decke von Eis auf alles lebendige, wenn es nicht durchbrochen wird.

   4. Man reißt das Haus nicht ein, das Väter uns gebaut,
   Doch richtet man sichs ein, wie mans am liebsten schaut.

Gewiß - es handelt sich in der Religion nicht nur um ein Feuer, das wärmt oder verzehrt, sondern um ein Haus, in dem wir mit Allem wohnen, was wir sind und haben. Das wollen die stolzen Heiligen nicht gelten lassen. Jenes Haus, das uns lieb ist, haben wir nicht selbst gezimmert; von den Vätern haben wirs ererbt, und danken es ihnen.

Aber wir wollen nicht darin wohnen wie Sklaven in einem Gefängnis, sondern als die freien Herrn; es soll unser Haus werden. Darum dürfen wir es nicht lassen wir es ist. [20]

   5. Und räumt man nicht hinweg ehrwürdge Ahnenbilder,
   Durch Deutung macht man sie und durch Umgebung milder.

Alles Ehrwürdige soll man festhalten, denn es giebt nicht viel davon in der Welt, und zumal ein ehrwürdiges Bild kann nie wertlos werden. So Manches in der überlieferten Religion erhält erst dadurch wieder Wert für uns, daß wir es als Bild betrachten. Einst war es etwas Anderes; nun muß es zum Bild werden, oder es muß weichen. Das Bild wird durch Deutung zum Gleichnis. Was einst historisch wertvoll war, wird nun psychologisch verstanden; es verliert an Tragkraft, aber es gewinnt an Gehalt und allgemeiner Geltung. Je und je hat sich gegen solche Deutung und Umdeutung eine Reaktion in den Kirchen erhoben mit der Forderung, man solle den Worten und Geschichten ihren ursprünglichen Sinn zurückgeben. Sie wissen nicht, was sie thun; sie wollen dem Strome gebieten, rückwärts zu fließen. Wohin kämen wir, wohin kämen auch sie, wenn man mit jener Forderung Ernst machte?

Aber nicht nur die Deutung erweicht das Spröde und zieht das Fremdgewordene wieder in unseren Kreis herein; alle die neuen Erkenntnisse, die wir gewonnen haben, umhüllen es; es wird eingestellt und eingebettet in unsre Erlebnisse und erhält so, auch ohne Umdeutung, eine neue Bedeutung. Es wird uns vertraut und unser Eigenthum.

   6. Des Glaubens Bilder sind unendlich umzudeuten,
   Das macht so brauchbar sie bei so verschiednen Leuten.

Der Dichter ist im letzten Vers aus der Poesie in die Prosa gefallen, unbekümmert um einen ergreifenden Schluß. Aber er durfte es auch ohne einen solchen wagen; denn er hat Tiefsinniges geredet.

Rückerts Gedicht entstand im Jahre 1835 und erschien erstmals im Deutschen Musenalmanach für das Jahr 1836. Es ist eines der 2789 Gedichte, die zu dem monumentalen Lehrgedicht »Die Weisheit des Brahmanen« gehören, ein Werk, das 1836 bis 1839 in sechs Bänden erschien und vor kurzem in einer historisch-kritischen Ausgabe (siehe unten) erstmals wieder vollständig abgedruckt wurde.

Das Lehrgedicht besteht aus 20 Büchern; der von Harnack ausgelegte Text ist das sechste Gedicht des ersten Buches. Welche der vielen späteren Auswahlausgaben Harnack benutzte, ließe sich möglicherweise an den textlichen Abweichungen (»selbstentkommner«, statt »selbstentglommner« Trieb etc.) ablesen, falls diese nicht auf Fehler Harnacks oder des Setzers zurückzuführen sind. Im Folgenden wird Rückerts Gedicht nach der kritischen Ausgabe wiedergegeben.

Alswie der Mensch, so ist sein Gott, so ist sein Glaube,
Aus geist'gem Aether bald, und bald aus Erdenstaube.

Doch doppelt ist der Gott, der Glaube doppelt auch,
Hier selbstentglommner Trieb, dort überkommner Brauch.

Das Eigenste wird ganz nie frei vom Angenommnen,
Doch übt die Eigenheit ihr Recht am Überkommnen.

Man reißt das Haus nicht ein, das Väter uns gebaut,
Doch richtet man sich's ein, wie man's am liebsten schaut.

Und räumt man nicht hinweg ehrwürd'ge Ahnenbilder
Durch Deutung macht man sie und durch Umgebung milder.

Des Glaubens Bilder sind unendlich umzudeuten,
Das macht so brauchbar sie bei so verschiednen Leuten.

(Die Weisheit des Brahmanen. Ein Lehrgedicht in Bruchstücken.
Friedrich Rückerts Werke. Historisch-kritische Ausgabe, hg. von Hans Wollschläger und Rudolf Kreutner.
Werke 1835-1836. Göttingen 1998, Band 1, S. 24).

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