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Das Alte Testament zwischen Orient und Moderne

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(erschienen in: scientia halensis – Das Wissenschaftsjournal der Martin-Luther-Universität Halle–Wittenberg, 1/2000, 8. Jahrgang, S. 3–4; hier mit einer Korrektur gegenüber der Druckfassung)

Das Wort »Bibel« kommt letztlich von dem griechischen Plural ta biblia (»die Bücher«) her, womit Flavius Josephus die Schriften des Alten Testaments, Johannes Chrysostomos aber diejenigen des Alten und des Neuen Testaments bezeichnete. Gemeint ist in beiden Fällen eine Anzahl von verschiedenartigen Literaturwerken, die insgesamt eher eine ›Bibliothek‹ abgeben. Alle diese Schriften bzw. Bücher sind auf ihre je eigene Art geprägt von der Geschichte Gottes mit Israel und den übrigen Völkern im Altertum über den Zeitraum von etwa anderthalb Jahrtausend. Die Bibel gilt jedoch bis heute als das »Buch der Bücher«, weil sie von einzigartiger Bedeutung vor allem für Judentum und Christentum (in Kirche und Theologie) und darüber hinaus für die Geistes- und Kulturgeschichte – nicht nur im sogenannten Abendland – war und ist.

Die Bibelwissenschaften Altes Testament und Neues Testament sind an der Universität Halle–Wittenberg mit je einem eigenen Seminar in einem Institut zusammengefaßt.

Deuteronomium 5,1–9 im Druckbild der Biblia Hebraica Stuttgartensia
(Stuttgart: Deutsche Bibelstiftung 1967/77)

Deuteronomium 5,1–9 im Druckbild der Biblia Hebraica Stuttgartensia (Stuttgart: Deutsche Bibelstiftung 1967/77)

Deuteronomium 5,1–9 im Druckbild der Biblia Hebraica Stuttgartensia
(Stuttgart: Deutsche Bibelstiftung 1967/77)

Der Text des Alten Testaments

Aufgabe der Wissenschaft vom Alten Testament ist es, dem Verständnis der 1574 Seiten hebräisch-aramäischen Text der Biblia Hebraica Stuttgartensia (s. oben) zu dienen. Diese Textfassung fußt auf der nahezu vollständig erhaltenen Bibelhandschrift B 19A, die aus der Tradition der Schreiberfamilie ben Asher um 1008/9 stammt, zur Sammlung Abraham Firkowitsch gehört und sich in St. Petersburg befindet. Jahrzehntelang hieß diese Handschrift Codex Leningradensis; seit der Wende spricht man gelegentlich auch vom Codex Petropolitanus.

Ist die Überlieferung des Bibeltextes durch die Jahrhunderte der minutiösen Arbeit jüdischer Tradenten – der Masoreten – zu verdanken, so stellte bereits das Herausbilden des Kanons, d.h. die Entscheidung darüber, welche der zur Auswahl stehenden Schriften in die Bibel Eingang finden sollten, eine mehrere Generationen beanspruchende Leistung dar. Im Ergebnis waren es schließlich 24 Bücher unterschiedlicher inhaltlicher und formaler Art, Herkunft und Zeit. Sie fanden Platz je nach Rang in den drei Kanonteilen Tora (»Weisung«) – Nebiim (»Propheten«) – Ketubim (»Schriften«). Aus den Anfangsbuchstaben T-N-K und Behelfsvokalen wurde das Kunstwort »Tenak« zur Bezeichnung der Bibel im Judentum gebildet.

Alle Teilbereiche der Wissenschaft vom Alten Testament im akademischen Unterricht – Geschichte des Volkes Israel, Exegese einzelner Bücher, Einleitung in das Alte Testament sowie Theologie mit Religionsgeschichte und Hermeneutik – haben auf ihre Weise der Entstehung und Verankerung der hebräisch-aramäischen Texte im alten Vorderen Orient Rechnung zu tragen. Denn das antike Israel gehörte bei aller Eigenheit, die es ausbildete, zum Alten Orient, speziell zur semitischen Bevölkerung. Seine Sprachen reihten sich ein in die nordwestsemitische Sprachengruppe und brachten die bei weitem umfangreichste Literatur dieses Raums, die sich erhalten hat, hervor. Diese Produktivität wäre jedoch kaum möglich gewesen ohne die Erfindung des Alphabets, die nach Anstößen aus Ägypten in der 1. Hälfte des 2. Jt. in mehreren Ansätzen während der Spätbronzezeit (1600–1200 v.Chr.) zwischen Sinai und Nordsyrien, vor allem in Phönizien, erfolgte. Im 13. Jh. verminderte sich im Nordwestsemitischen die Konsonantenzahl von etwa 30 auf 22, die später auch nach Griechenland übermittelt wurden.

Geschichte des Volkes Israel

Als exponiertes Gebiet im Süden der syrisch-palästinischen Landbrücke hatte das alte Israel teil an zwei übergreifenden Zusammenhängen der altorientalischen Welt. Zum einen bildete es das Südwestende des sogenannten »Fruchtbaren Halbmonds«, der Fruchtbarkeitszone vom Zweistromland über Nordsyrien bis in den Süden Kanaans. Zum anderen war Israel südöstlicher Bestandteil des griechisch-levantinischen Halbkreises, der sich von Griechenland über Kleinasien und die Levante nach Süden erstreckte und vor allem kulturell-religiös bedeutsam war. Die Geschichte des Volkes Israel von den Anfängen im 2. Jt. bis in die römische Zeit läßt sich sachgemäß nur im Rahmen der altorientalischen Geschichte, Geographie und Archäologie erfassen, wobei von Belang ist, daß die levantinische Landbrücke keine dauerhafte Großreichs- oder Weltreichsbildung zuließ, sondern den jeweiligen Herrschaftbestrebungen von Osten (Assyrer, Babylonier, Perser), Norden (Mitanni, Hethiter), Süden (Ägypter) und Westen (Seevölker, Griechen, Römer) ausgesetzt war.

Exegese einzelner Bücher

Der Exegese (Erklärung oder Auslegung) der im Alten Testament gesammelten, sehr verschiedenartigen Literaturwerke gilt auf der Grundlage von Hebraistik und Aramaistik ein Hauptteil des wissenschaftlichen Interesses. Das Kommentieren wird als ›Königsdisziplin‹ betrachtet. Dafür sind sowohl das historisch-kritische Methodenkompendium als auch neue Fragehorizonte wie Struktur- und Kulturvergleich und vieles andere mehr erforderlich. Das sprunghafte Anwachsen des archäologischen und vor allem epigraphischen Materials – besonders durch die intensive Grabungstätigkeit in Israel selbst – führt zu neuen Einsichten, läßt jedoch auch manches (noch?) unübersichtlich erscheinen.

Einleitung in das Alte Testament

Die Einleitung in das Alte Testament muß nicht nur jede einzelne Schrift mit ihrem Aufbau, Inhalt, Werdegang und ihren Problemen darstellen, sondern auch das Gesamte des Alten Testaments, einschließlich seiner griechischen Septuaginta-Fassung, in den Blick nehmen. Vermochten das in der Vergangenheit noch große einzelne Gelehrte allein, wie beispielsweise der Theologe und zeitweilige Rektor der halleschen Universität Otto Eißfeldt in Halle, so können sich heute angesichts der erforderlichen Spezialisierung schon bis zu einem Dutzend Fachwissenschaftler an einem solchen Werk beteiligen.

Theologie mit Religionsgeschichte und Hermeneutik

Nur im Rahmen der altorientalischen Religionsgeschichte läßt sich die Besonderheit der religiösen Theorien und Verhaltensweisen des alten Israel herausarbeiten. Vor allem die seit 1928 in Ugarit (antike Stadt an der syrischen Mittelmeerküste, heute: Ras Schamra) gemachten Funde bereichern das Verständnis. Gegenüber dem in der vorderorientalischen Umwelt üblichen Kosmotheismus, wonach die Welt an den Göttern und die Götter an der Welt Anteil haben, setzte man im alten Israel schließlich die Überzeugung von einem einzigen Gott durch, der von der Welt als seiner Schöpfung wesensmäßig unterschieden und bildlos zu verehren ist. Mit dem Monotheismus ist zugleich eine Universalisierung der Geschichte verbunden, ohne die unverbrüchliche Bindung Gottes an sein erwähltes Volk Israel aufzugeben. Brennpunktartig bündelt das der Anfang des Dekalogs, der Zehn Gebote, in 2. Mose 20,2–6 und 5. Mose 5,6–10 (s. Abb.).

Über Wirkungs- und Rezeptionsgeschichte gründeten sich die drei monotheistischen Weltreligionen Judentum, Christentum und Islam auf dieses Fundament. Judentum und Christentum bezogen die gleichen Texte in den Kanon ihrer heiligen Schriften ein, für die bis in die Gegenwart Gültigkeit beansprucht wird. Die Entscheidung christlicherseits, dem Neuen Testament das Alte – in griechischer Übersetzung und in teilweise anderer Anordnung, gegenüber dem hebräisch-aramäischen Textbestand aber ungekürzt – voranzustellen, entspricht der grundlegenden Bedeutung des Alten Testaments.

Bezeichnungsprobleme

Problematisch war und ist jedoch die Bezeichnung »Altes Testament«, weil beide Wörter der Abwertung des Judentums bzw. dem Antisemitismus dienstbar gemacht werden könnten, indem »Alt« als »veraltet/überholt« und »Testament« im Sinn einer Erbschaftsverfügung, die den Tod des Erblassers voraussetzt, verstanden würden. Beides ist falsch. Deshalb werden – vor allem seit der Judenvernichtung durch Deutschland – Ersatzbezeichnungen gesucht. Beispielsweise empfahlen die »Thesen zur Erneuerung des Verhältnisses von Christen und Juden«, die die Synode der Evangelischen Kirche im Rheinland von 1980 durch Beschluß entgegennahm, »Hebräische Bibel«. Andere Vorschläge lauten: »Jüdische Bibel«, »Tenak« (s.o.), »Bibel Israels«. Von den vor allem in Nordamerika unterbreiteten Vorschlägen, für »Old (Testament)« andere Adjektive wie »Prime«, »Original« oder »First« zu setzen, ist im deutschen Sprachraum »Erstes Testament« favorisiert worden. Zur Begründung wird unter anderem angeführt, daß erstens die traditionelle Abwertung unterbleibt, zweitens der historischen Reihenfolge entsprochen wird, drittens der Bund Gottes mit Israel, der die Völker einbezieht, die Grundlage für die weitere Geschichte Gottes mit der Welt darstellt und schließlich »Erstes« und »Zweites Testament« erst gemeinsam die Gesamtheit der christlichen Bibel ergeben.

Selbst wenn solche Versuche bisher noch keinen völlig überzeugenden, besseren Begriff als »Altes Testament« erbracht haben – »alt« im Sinne von ancien, also »seit langer Zeit bestehend, ehrwürdig«, »Testament« als Bund Gottes mit seinem Volk Israel –, weisen diese hermeneutischen Bemühungen dennoch in die richtige Richtung eines Miteinanders von Religionen und Menschen in Gegenwart und Zukunft.

Der Verfasser studierte von 1960 bis 1965 Theologie an der Universität Leipzig (Promotion 1971; Habilitation 1990); er lehrte von 1977 bis 1993 an der Kirchlichen Hochschule Naumburg; 1993 wurde er als Professor an das Institut für Bibelwissenschaften der Theologischen Fakultät nach Halle berufen.

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