Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

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Wasserwanderung (Mt 14,22-33)


Predigt von Prof. Dr. Dirk Evers im Semesterschlussgottesdienst am 3. Juli 2023 in der Moritzkirche

Liebe Gemeinde,

im April 1944 schrieb der von den Nazis inhaftierte Theologe Dietrich Bonhoffer aus dem Gefängnis an seinen Freund Eberhard Bethge: „Was mich unablässig bewegt, ist die Frage, […] wer Christus heute für uns eigentlich ist“ (DBW 8, 402). Die Geschichte von der Wasserwanderung Jesu, die wir soeben als Evangelium gehört haben, soll uns den Anlass bieten, uns dieser Bonhoeffer-Frage zuzuwenden: Wer ist Christus heute für uns?

Dabei soll die Frage: „Wie hat er das eigentlich gemacht mit dem Wasserlaufen?“ eine untergeordnete Rolle spielen. Sie ist nicht unwichtig. Es ist die Frage, ob und weshalb Jesus zu solchen Wundern in der Lage war, ob er sie tatsächlich so getan hat – und ob deshalb eine erste Antwort auf unsere Frage, wer Jesus für uns heute ist, „Wundertäter“ lauten könnte, ja lauten müsste. Das ist durchaus eine traditionelle Antwort: Er ist eben irgendwie auch Gott. So einer kann das. Ein Gottmensch kann das – wir können das nicht, oder jedenfalls nur in Ansätzen, wie das Beispiel des Petrus uns zeigt. Als „Wundertäter“ wäre Christus für uns jemand, der das kann, was wir nicht können, und der für uns heute deshalb Bedeutung hat, weil er unsere Schwachheit kompensiert. Wenn wir uns zu ihm halten, dann haben wir gewissermaßen jemanden mit Superkräften auf unserer Seite. Oder so ähnlich.

Doch die Geschichte ist nicht so sehr an dem wunderbaren Vorgang als Machtdemonstration interessiert, sondern bedenkt unsere Eingangsfrage differenzierter: Was ist dieser Wasserläufer eigentlich für ein seltsamer Typ und hat er als Person eine Bedeutung für uns? Dabei ist es schon richtig: Diese Frage wird provoziert durch die eigentlich zugrundeliegende Beobachtung: Warum kann der das, und wir können das nicht? Aber die Antwort ist nicht einfach die, dass er eben Gottessohn-Superkräfte hat. Das wird jedenfalls deutlich, wenn wir den Text als das nehmen, was er ist: eine Geschichte, die erzählt wird. Und in einer Geschichte, die erzählt wird, die mehr ist als die Illustration einer abstrakten Wahrheit ist, passiert etwas. Darauf muss man achten. Also der Reihe nach. Schauen wir uns an, was passiert und dieser seltsame Typ uns hier vorgeführt wird.

Wenn man sich Jesus irgendwie als Gottessohn mit Superkräften vorstellt, beginnt es ja ohnehin gleich ein wenig seltsam. Jesus will beten, und zwar allein. Wieso betet der Gottessohn? Und man fragt sich, was hat Gott eigentlich mit sich selbst zu besprechen? So ganz geht das Bild mit den Super-Kräften schon von daher nicht auf.

Nach durchbeteter Nacht jedenfalls geht Jesus den Jüngern in ihrem Boot auf dem Wasser hinterher, die er noch am Abend weggeschickt hatte. Die haben mit Gegenwind zu kämpfen und sind nicht so richtig vorangekommen. Im Text ist dann wirklich von Wandeln oder Spazierengehen die Rede, von peripatein (περιπατεῖν). Das taten übrigens auch die Philosophen aus der Schule des Aristoteles, die beim Philosophieren in eienr Säulenhalle herumwandelten. Man nannte sie deshalb die Peripatetiker. Jesus ist also ein Peripatetiker eigener Art und bewegt sich gemessenen Schrittes über das Wasser. Der Text spricht davon, dass dies in der vierten Nachtwache geschah. Das ist eine römische Zeitangabe. Zwischen sechs Uhr abends und sechs Uhr morgens wurden römische Wachtposten alle drei Stunden abgelöst. In der vierten und letzten Nachtwache, also zwischen drei und sechs Uhr in der Früh, nähert sich schon der Morgen. Es ist also die Zeit vor der Dämmerung. Diese Zeitangabe dürfte kein Zufall sein. Am frühen Morgen, noch in der Dämmerung, kommen zum Beispiel auch die Frauen nach Jesu Hinrichtung, um nach dem Grab zu sehen. Sie finden es leer vor und begegnen dann dem auferstandenen Jesus. Und auch den Frauen geht es bei der Begegnung mit dem auferstandenen Jesus wie den Jüngern hier im Boot bei miesem Wetter kurz vor Morgen: sie erschrecken und halten Jesus für ein Gespenst. Griechisch steht da übrigens phantasma (φάντασμα), also so etwas wie ein Phantom – eine zu der damaligen Zeit vielleicht naheliegende Auffassung. Unerklärliche und gefährliche Erscheinungen gab es viele, und zumeist schien etwas Bedrohliches dahinter zu stecken.

Das ist also ein weiteres Jesusbild: Jesus als Gespenst. Das schien übrigens vor 100 Jahren der Ertrag der historischen Forschung zu der geschichtlichen Person des Jesus von Nazareth zu sein. Der große Theologe und spätere Missionsarzt Albert Schweitzer schrieb als Fazit dazu in einem berühmten Werk: „Es ist der Leben-Jesu-Forschung merkwürdig ergangen. Sie zog aus, um den historischen Jesus zu finden, und meinte, sie könnte ihn dann, wie er [wirklich] ist, als Lehrer und Heiland in unsere Zeit hineinstellen. Sie löste die Bande, mit denen er seit Jahrhunderten an den Felsen der Kirchenlehre gefesselt war, und freute sich, als wieder Leben und Bewegung in die Gestalt kam und sie den historischen Menschen Jesus auf sich zukommen sah. Aber er blieb nicht stehen, sondern ging an unserer Zeit vorüber und kehrte in die seinige zurück. Das eben befremdete und erschreckte die Theologie, […] daß […] sie ihn ziehen lassen muße“ (Schweitzer, Geschichte der Leben-Jesu-Forschung, 2. Auflage 1913, 631f.). Jesus als historisches Gespenst, das sich im Nebel der Geschichte und dem voraufgeklärten Weltbild seiner Zeit verliert, vor dem man angesichts seiner Fremdheit und Unwirklichkeit erschrickt und den man eigentlich ziehen lassen, den man als Heiland für die eigene Zeit aufgeben muss. Auch dieses Jesusbild kann uns nicht vermitteln, was Christus für uns heute bedeutet.

Doch die eigentliche Geschichte kommt ja erst noch. Und sie beginnt damit, dass Jesus redet. Das verändert alles, jetzt wird es dynamisch. Jetzt passiert wirklich etwas in dieser Geschichte. Wenn wir darüber nachdenken, was Christus für uns heute eigentlich bedeutet, dann müssen wir darauf achten, was Jesus redet: „Ich bin es. Fürchtet euch nicht!“ Das ist wie ein Merksatz, der über dieser so merkwürdigen Geschichte steht. Damit nimmt die Geschichte eine Wendung: Jesus redet. Und das wäre wohl die erste Antwort, die man auf Bonhoeffers Frage, wer Jesus für uns heute ist, geben müsste: die Antwort liegt nicht in der kirchlichen Lehre und nicht in der Geschichte. Sie stellt sich dann und nur dann ein, wenn Jesus selbst zu reden beginnt. Wir müssen diese Frage so stellen, dass sie dafür offen ist, dass Jesus über die Zeiten hinweg zu uns zu reden beginnt. Dabei es ist mit dieser Frage wie mit so vielen Fragen, die wirklich etwas bedeuten: Es gibt nicht die eine Antwort, die diese Frage erledigt. Die Frage, was Christus für uns heute bedeutet, stellt sich immer wieder neu. Und sie ist immer auch verbunden mit der entsprechenden Frage an uns selbst: Wer ist Jesus für uns heute? Gebe Gott, dass auch in diesem Gottesdienst unter den Worten, die wir hören und machen, solche Worte sind, die Christus selbst zu uns redet! Gott gebe uns ein solches Wort für unser Herz – und ein offenes Herz für sein Wort!

Doch weiter mit dem dynamischen Hauptteil der Erzählung. Jetzt wird es spannend, denn Petrus reagiert auf die Feststellung von Jesus: „Ich bin es. Fürchtet euch nicht!“ mit der Forsetzung: „OK, wenn du es bist, so befiehl, dass ich auf dem Wasser zu dir komme!“ Das ist mutig, denn mitten in rauer See das Boot zu verlassen, kann gefährlich werden. Es gab in der Antike zwar die Anfänge von Schwimmunterricht, aber das war doch eher upper class. Wenn Griechen oder Römer in der Antike einen besonders ungebildeten Menschen trafen, sagten sie über diesen, er könne „weder lesen noch schwimmen“. Petrus als ungebildeter Fischer ist also mutig. Aber er ist kein Draufgänger. Erst, wenn Jesus, der offensichtlich ganz bequem auf dem Wasser „wandeln“ kann, ihm den Befehl gibt, will er es wagen. Ob das dann doch ein bisschen feige ist oder nur vorsichtig, kann erst einmal offenbleiben. Jedenfalls redet Jesus nun zum zweiten Mal und sagt ganz schlicht und einfach: „Komm!“ Und Petrus klettert aus dem Boot und geht tatsächlich über das Wasser auf Jesus zu. Doch kaum bemerkt er den heftigen Wind, vergeht ihm der Mut und er beginnt zu sinken, so dass Jesus ihn retten muss. Zurück im Boot klärt sich dann die Szene. Der Wind beruhigt sich. Und die Jünger sind nun zu der Einsicht gekommen, dass dieser Wasserläufer der Gottessohn ist.

Wenn wir uns also auf diesen Kern der Geschichte konzentrieren, dann scheint diese Einsicht der Jünger nicht daraus hervorzugehen, dass da jemand über das Wasser geht. Das kann sozusagen jedes Gespenst. Sie geht auch nicht daraus hervor, dass hier jemandem Wind und Wellen nichts auszumachen scheinen. Die Jünger hatten ja selbst offensichtlich keine Angst vor dem aufgewühlten See Genezareth. Die Stillung des Sturms, wo es um Leben oder Tod geht, das ist eine andere Geschichte. Die Jünger waren ja selbst Fischer, sie kannten die Herausforderungen des Sees bei Gegenwind. So war ihr Leben: mühsam, aber zu bewältigen. Von den Wellen hin und her geworfen und dabei Kurs halten – das waren sie gewohnt.

Jesus wird als Gottessohn erkenntlich – nicht, weil er den Wind und die Wellen beruhigt, sondern weil er in genau dieser Situation zu ihnen kommt und sie anredet. Denn das mag ja auch irgendwie ein Sinnbild für ihr Leben und auch für weite Strecken unseres Lebens sein: von Wellen hin und her geworfen, weil man Gegenwind hat, und man versucht, den Kahn irgendwie auf Kurs zu halten. Im Studium ist das fast unvermeidlich. Orientierung muss sich erst einstellen, und das Handwerkszeug hat man noch zu lernen. Und Gegenwind ist irgendwie immer. Da ist der Gegenwind der Umstände, die so oft alles andere als günstig sind. Da braucht man nur an die Großwetterlagen von Politik und Gesellschaft zu denken – von der Corona-Krise über den Urkaine-Krieg bis hin zu einem nationalistischen Rechtsruck in vielen Teilen Europas und auch hier in unseren Landen. Das alles berührt uns auch hier an der Universität.

Dann ist da der Gegenwind aus Missgunst, der Gegenwind der anderen, die uns um keinen Preis gönnen wollen, was sie selbst nicht bekommen. Da ist der Gegenwind der wieder anderen, die um jeden Preis uns das nehmen wollen, was sie selbst im Überfluss haben. Da ist der Gegenwind der Leute, die es ohnehin immer schon besser wissen als wir. Auch an einer Universität toben Wellen von Missgunst, Besserwisserei und Selbstbezogenheit, und da ist es eben mühsam, den kleinen Kahn des eigenen Lebens, des Studiums, der akademischen Laufbahn voranzubringen. Und dass man selbst Gegenwind für andere produziert, macht es auch nicht besser. Im Gegenteil. Niemand kommt so richtig vom Fleck, und keiner wandert so locker über das Wasser, außer vielleicht Gespenster.

Aber dann kommt die Wende in unserer Geschichte, indem Christus redet. Und für mich sind es eben diese beiden Worte, in denen sich ausdrückt, was Christus heute für uns bedeuten könnte. Da ist das erste Wort Jesu: „Ich bin es, fürchtet euch nicht!“ Das ist nicht die Stillung des Sturms, nicht die Glättung der Wogen. Damit stellt sich – mitten im Gegenwind und mitten in den Turbulenzen des Lebens – einer vor, der ganz auf unserer Seite steht. Mitten in dem, womit wir uns abmühen und wo wir oft nur Gespenster sehen. Hin und hergeworfen von den Widrigkeiten unserer Existenz, mitten im Gegenwind geht uns einer hinterher, den wir eigentlich längst kennen.

Ich denke mir, dass diese Geschichte von Matthäus ihre jetzige Form erst erhalten hat, nachdem Jesus den Kreuzestod gestorben war und die Frauen am Ostermorgen und dann die erste Gemeinde ihn als den Auferstandenen erfahren hatten. In der Tat: Man kennt sich. Durch Kreuz und Auferstehung hat Jesus Christus sich den Christenmenschen bekannt gemacht als Person der Wende, der Wende vom Kreuzestod zum neuen Leben. Jesus Christus ist bekannt als die personifizierte Wende vom Tod zum neuen Leben. Deswegen hängt er ja mit diesem Sinnbild in unseren Kirchen, weil sein Kreuz für diese Wende steht. Christus als Gekreuzigter dient nicht dazu, ein Gespenst von einem Gottmenschen aus längst vergangenen Zeiten heraufzubeschwören, sondern um uns an die Person zu erinnern, deren Tod von Gott selbst in die personifizierte Anwesenheit von Furchtlosigkeit verwandelt wurde. Und der redet uns an: „Ich bin es, fürchtet euch nicht!“ Und eben das ist auch die Person, die auf den Wassern wandelt, die in den Widrigkeiten und der zermürbenden Mühsal auch unseres Lebens uns anspricht mit den Worten: „Ich bin es, fürchtet euch nicht!“

Und es ist diese Person der Wende, die dann zu Petrus das zweite Wort sagt: „Komm!“ Steig aus. Geh los. Lass den Gegenwind Gegenwind sein. An dir soll er sich vergeblich verausgaben. Komm einfach! Der Gegenwind und die Wellen sind nicht weg, aber du bist jetzt eine andere Person. Missgunst, Besserwisserei, Selbstbezogenheit? Das lass die anderen mit sich ausmachen. Raus aus dem wunschlos Unglücklichsein! „Glücklich sein beginnt immer / Ein wenig über der Erde“, hat Karl Krolow einmal gedichtet, und dieses Wandeln auf dem Wasser mag ähnliches bedeuten. Geh im Gegenwind über die Wellen hinweg. Probier das aus. Das gilt auch für uns hier an der Universität: Gegenwind ist kein Argument, weder im Guten noch im Schlechten. Es gilt auszusteigen aus dem Hin und Her der vergifteten Meinungen. Zu dieser Wende, zu der uns Jesus provoziert, gehört auch der Mut (im Kant-Jahr darf man das vielleicht einmal deutlich sagen), sich der eigenen Kräfte und des eigenen Verstandes zu bedienen und lernen, selbst zu denken. Dem Gottessohn mit Super-Kräften, dem müsste man sich bedingungslos unterwerfen. Dieser Wasserläufer sagt: „Komm!“ Probiere es selbst!

Klar, das mit dem Wasserlaufen funktioniert nicht gleich. Scheitern gehört dazu. Unsere Kraft ist immer begrenzt. Auch und erst recht die Kraft unserer Vernunft und unseres Denkens. Aber wie soll man sie gerade auch in ihren Grenzen anders kennenlernen und ein Gefühl für das eigene Leben bekommen, als dass man sie gebraucht? Und dann ist da immer die Hand dieser Person der Wende, des Gottessohnes, wie die Jüngerinnen und Jünger damals und wie wir heute ihn nennen, die uns wieder heraufzieht und es gerne noch einmal sagt: „Ich bin es, fürchtet euch nicht!“ Und dann gleich wieder hinterherschiebt: „Komm!“

Liebe Gemeinde, vielleicht können das die beiden Worte sein, die Christus heute zu uns spricht, in je unsere Situation, je persönlich und individuell, aber auch als Gemeinschaft der Lehrenden und Lernenden, die beiden Worte, die möglicherweise zum Ausdruck bringen, was Christus uns heute bedeutet: „Ich bin es, fürchtet euch nicht!“ Und: „Komm!“

Amen.

Und der Friede Gottes, der höher ist als unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Jesus Christus. Amen.

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