Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

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Wasserangst (Jona 1-4)


Predigt von Paulien Wagener zum Universitätsgottesdienst am 12. Mai 2024

Der Prophet Jona hat eine Aufgabe: Er soll sich auf den Weg machen in eine ihm fremde Stadt und dort Menschen auf ein ihnen drohendes Unheil aufmerksam machen. Die Aufgabe ist, wie sich im Laufe des Buches Jona zeigt, im Grunde simpel: Erst muss er die Reise überstehen und nach Ninive gelangen. Dann stellt er sich in der Stadt an einem zentralen Ort auf. Dort predigt er über das drohende Unheil.

Dass Jona seine Aufgabe nicht erfüllen möchte, ist der Anlass zu einer längeren Geschichte, die im Buch Jona, in der hebräischen Bibel, erzählt wird.

Das Buch beginnt mit dem Auftrag Gottes an Jona und anschließend reist dieser los – doch in die entgegengesetzte Richtung. Er sucht sich ein Schiff und versucht, so viel Land und Wasser zwischen Ninive und sich zu bringen, wie möglich.

Mit diesem Verhalten Jonas gibt es nun aber ein Problem: Jonas Aufgabe war wichtig, lebenswichtig. Denn das Leben von 120.000 Menschen und dazu noch ihren zahlreichen Tieren lag in Jonas Verantwortung. Er trug die Verantwortung, den Menschen ein Problem mitzuteilen, um sie zu ermächtigen, eine Lösung für das Problem zu suchen. Auf diese Weise gab er ihnen die Chance, das Unheil abzuwenden. Und falls die Verantwortung ihm nicht wichtig genug schien, wäre diese Ausgangslage auch ein guter Anlass für Empathie, für Mitgefühl. Sollte das Schicksal dieser vielen Menschen Jona nicht zum Handeln bewegen?

Was also hindert Jona, seine Verantwortung wahrzunehmen und sein Mitgefühl als Anlass zum Handeln zu nehmen?

Fühlt Jona kein Verantwortungsgefühl?

Diese Frage können wir beantworten, wenn wir seinen Umgang mit den Seeleuten betrachten: Sie geraten durch ihn in Bedrängnis, und er gibt ihnen alle nötigen Informationen um eine Lösung zu finden: Er erzählt seine Geschichte und damit in der Logik der Erzählung den Grund für das Problem der Seeleute. Anschließend schlägt er ihnen die Lösung ihres Problems vor: Sie sollen ihn ins Meer werfen. Und tatsächlich, seine Lösung funktioniert. Der Sturm legt sich.

Wie wir sehen, übernimmt Jona hier Verantwortung. Jona hat also Verantwortungsgefühl und an anderer Stelle folgt er diesem Gefühl.

Was könnte Jona dann hindern nach Ninive zu gehen? Hat Jona vielleicht Angst?

Wasserangst, zum Beispiel. Angst vor Wasser hat er jedoch nicht, schließlich setzt er sich unnötigerweise einer gefährlichen Seereise aus. Er hätte ja auch in eine andere Richtung davonlaufen können. Auch davor mit dem Schiff zu kentern hat Jona keine Angst. Nicht einmal davor, ins Wasser geworfen zu werden hat Jona Angst.

Hat Jona aber Angst vor seiner Aufgabe? Angst zu scheitern? Angst, vor den vielen Menschen zu sprechen oder ein Botschafter Gottes zu sein?

Schauen wir uns dafür den weiteren Verlauf der Geschichte an:

Nach Jonas Seeunglück, einschließlich dem Verschlucktwerden von einem Fisch, wird er an Land gespült und geht schließlich doch nach Ninive. Dort erfüllt er seine Aufgabe, nämlich das drohende Unheil anzukündigen. Tatsächlich ist er sehr erfolgreich: Die Stadtbevölkerung, bis hin zum Herrscher und sogar den Tieren, glauben Jonas Unheilsankündigung und suchen einen Weg, das Unheil abzuwenden. Gott reagiert auf diesen Sinneswandel mit Erbarmen.

Und wie ist Jonas Reaktion? Ist er erleichtert seine Aufgabe erfüllt zu haben? Ist er froh, schließlich seine Angst überwunden zu haben?

Keineswegs. Jona ist frustriert. Er ist frustriert über seinen Erfolg. Er bereut umso mehr, seine Aufgabe erfüllt zu haben, da er erfolgreich ist. Jona hat keine Angst vor seiner Aufgabe, noch vor dem Misserfolg.

Hat Jona Angst vor dem Tod? Auch diese Theorie wird man schnell verwerfen, wenn man seine Geschichte liest. Er ist bereit sich ohne mit der Wimper zu zucken ins Wasser und damit den sicheren Tod werfen zu lassen, um eine Hand voll Seeleute zu retten. Aber er ist nicht bereit, 120.000 Menschen durch einige Worte zu retten.

Nein, Jona hat keine Angst – nicht vor dem Wasser, nicht vor dem Misserfolg, nicht einmal vor dem Tod.

Jona hat Verantwortungsgefühl, Jona hat keine Angst. Was also hindert Jona daran, der Bevölkerung Ninives zu helfen?

Jona hat Abscheu. Abscheu. Ekel.

Die Menschen in Ninive sind für ihn Abschaum. Monster. Un-Menschen. Das erschließt sich uns heute nicht so unvermittelt, wie den Hörenden des 2. oder 3. Jh.s v.Chr., aus denen der Text stammt. Darum eine kurze Vermittlung:

Ninive war eine Hauptstadt des neuassyrischen Großreiches (im heutigen Irak) gewesen, eines der Großreiche, die Israel in den Jahrhunderten zuvor geplagt hatten. In den Büchern Nahum und Zefanja finden sich die Stadt Ninive darum stellvertretend für das Assyrerreich. Und zwar auf eine sehr negative Art. Denn die Assyrer treten ab dem 8. Jh. v. Chr. zunehmend als Bedrohung gegen Israel auf und treiben das Nordreich Israel schließlich in den Untergang. Dazu eroberten die assyrischen Armeen die anvisierten Gebiete mit brutaler Macht und militärischem Kalkül. Anschließend deportierten sie ganze Bevölkerungen und siedelten sie z.B. in landwirtschaftlich unerschlossenen Gebieten des Reiches an, um dort den Boden zu bearbeiten.

Wer schon einmal im Zentrum eines anderen ehemaligen Großreiches war, im British Museum in London, hat sich vielleicht im Raum 10b vor der Darstellung der Eroberung Lachischs wiedergefunden. Das Lachisch-Relief zeigt den Sieg des Assyrerkönigs Sanherib über das judäische Lachisch und hing im Palast seines Nachfolgers Sargon II. Es ist eine Machtdemonstration, eine wertgeschätzte Erinnerung an vergangene Heldentaten, könnte man sagen. Auf diesem Relief findet man nicht nur den Ablauf der Eroberung, mit Rampen und Kriegsgerät. Man sieht nicht nur die anschließende Deportation der Bevölkerung. Man sieht auch, wie Menschen bei lebendigem Leib gehäutet werden. In Gegenwart von Kindern. Das ist ein Selbstporträt des neuassyrischen Großreiches.

Und falls Ihnen jetzt schlecht ist, verstehen sie vielleicht ein bisschen, welches Gefühl Jona beim Gedanken an die Assyrer gehabt haben mochte: Abscheu. Ekel, besser moralischer Ekel. Für Jona sind die Assyrer Monster. Un-Menschen. Denn er hatte Geschichten über sie gehört. Brutale Geschichten. Grausame Geschichten. Und so assoziiert er die Menschen mit den Gräueltaten des Reiches. Für Jona stehen diese Menschen stellvertretend für ein Reich des Bösen. Darum spricht Gott auch zu Beginn des Textes: „[Ninives] Bosheit ist vor mich gekommen.”

Und so fühlt Jona kein Verantwortungsgefühl, kein Mitgefühl für die Bevölkerung Ninives. Er fühlt sich von den Assyrern abgestoßen. Er verabscheut sie. Er fühlt Ekel.

Ekel ist ein Gefühl, dass Menschen im Laufe ihres Lebens lernen. Wir ekeln uns vor Dingen, mit denen wir schlechte Erfahrung gemacht haben. Wenn man z.B. einen Magen-Darm-Infekt durchlebt, kann es passieren, dass man einen Ekel vor dem Gericht entwickelt, dass man kurz vor Beginn der Krankheit gegessen hat. Auch wenn es tatsächlich gar nicht für den Infekt verantwortlich war. Die Assoziation mit der schlechten Erfahrung ruft den Ekel hervor.

Das liegt daran, dass Ekel uns schützen soll. Verdorbenes oder giftiges Essen lernt man so zu meiden. Ebenso wie andere mögliche Krankheitsherde.

Das Gefühl von Ekel entsteht aber nicht nur durch negative Erfahrungen. Wir lernen Ekel auch von unserem Umfeld, durch Beobachtung, durch Erziehung, durch Bildung.

Und so lernen man nicht nur Ekel vor materiellen Dingen, sondern auch Ekel vor Handlungen. Moralischen Ekel.

Das Gefühl also, was Sie möglicherweise eben bei meiner kurzen Beschreibung der Darstellung der Eroberung Lachischs im British Museum empfunden haben. Moralischer Ekel.

Wenn Jona sich vor den Menschen in Ninive ekelt, dann hat das, wie ich kurz angerissen habe, ja auch „guten Grund“. Es kursierten schreckliche Geschichten über das Handeln der Assyrer, auf die er mit moralischem Ekel reagiert. Mit solchen Menschen will er nichts zu tun haben. Er will nicht in ihre eklige Stadt gehen, nicht auf ihren ekligen Straßen laufen und ihnen erst recht nicht in ihre ekligen Gesichter blicken müssen. Warum sollte er diesen Monstern helfen?

Jona sieht nur, was er gehört hat, was vor seinem inneren Auge steht. Er kann nicht über seinen Ekel hinausblicken. Was Jona in seiner ekelbedingten Abwehrhaltung nicht sehen kann: Es geht hier um 120.000 Menschen, allen Alters, die ihr Leben leben. Die spielen, kochen, lachen, trinken, arbeiten, essen, krank werden, gesund werden, sterben, weinen. Er sieht Monster, dabei sind es Menschen. Er sieht, was er gelernt hat zu sehen. Er glaubt, was er gelernt hat zu glauben. Und er fühlt sich dabei absolut im Recht.

Gott ist mit diesem Ekel aber absolut nicht einverstanden. Für sie ist Jona absolut auf einem Irrweg. Und so lässt sie Jona nicht ziehen, als er flieht. Lässt einen Fisch Jona schlucken. Wie eklig muss Jona für den Fisch gewesen sein? Und sie veranlasst den Fisch Jona bis ans Land auszuhalten, wo er ihn (vielleicht auch voller Ekel) ausspuckt.

Und noch einmal gibt sie Jona seinen Auftrag nach Ninive zu gehen. Und nach Vollendung seiner Aufgabe hört sie nicht auf mit Jona zu streiten. Gott ist sehr ausdauernd. Sie streitet mit Jona und seinem Ekelgefühl.

Denn der Ekel hat nicht immer Recht, wissen Sie? Der Ekel kann sich irren. So wie mit den Gerichten, die man nicht mehr essen kann, obwohl sie für den Magen-Darm-Infekt nicht verantwortlich waren.

Jona und sein Ekel irren sich. Sein Ekel hat ihn erbarmungslos gemacht. Sein Ekel hat ihn selbstgerecht gemacht. Sein Ekel hat ihn blind für andere Menschen gemacht.

Gott kennt keinen Ekel. Gott braucht auch keinen Ekel. Menschen brauchen Ekel. Wir nutzen unser Ekelgefühl als Schutz. Nur hinterfragen wir unseren Ekel viel zu selten, vor allem wenn er auf Kosten von anderen Menschen geht.

Zum Beispiel wenn es um Homophobie geht. Denn seien wir ehrlich, geht es hier wirklich um Phobie, Angst? Kann man Angst empfinden vor Menschen, die sich küssen? Kann man Angst empfinden vor Menschen, die Händchen halten? Oder ist das nicht in Wirklichkeit Ekel, wegen dem Menschen Abstand nehmen?

Wie sieht es mit Transphobie aus? Kann man Angst empfinden vor Menschen, die wider Erwarten Kleider tragen? Kann man Angst davor empfinden, Pronomen zu lernen? Oder ist das nicht in Wirklichkeit Ekel, wegen dem Menschen Abstand nehmen?

Was ist, wenn jemand etwas richtig Dummes sagt? Wenn eine Person sich durch ihre Aussagen als außenstehend erweist? Als ungebildet? Als provinziell? Als oberflächlich und unkultiviert? Drängt sich mir ein Ekelgefühl auf? Nehme ich aufgrund meines Ekels Abstand?

Wie sieht es aus, wenn jemand mir offenbart eine Partei zu wählen, für die ich kein Verständnis habe?

Diese Ekelanlassliste ließe sich beliebig erweitern.

Ich glaube, die meisten Menschen empfinden über diese Dinge keine Angst, sondern Ekel. Die Bezeichnung „Angst“ ist ein Schutzschild, um sich nicht der eigenen Abneigung zu stellen.

Doch genau das müssen wir tun. Uns mit unseren Abneigungen und unserem Ekel beschäftigen. Unseren Ekel überprüfen. Ihm auf den Grund gehen. Seine Ursache finden und seine „Rechtmäßigkeit“ kritisch prüfen. Mit Ekel – kein Verantwortungsgefühl. Mit Ekel – kein Mitgefühl. So wie Jona.

Und so endet die Jona Geschichte: Nachdem er widerwillig obwohl erfolgreich seinen Auftrag erfüllt hat, stellt Gott ihn zur Rede. Und konfrontiert ihn mit ihrem Erbarmen. Das Buch endet mit der Frage Gottes an Jona und vielleicht auch an uns:

»Sollte Ninive mir nicht leidtun –
eine große Stadt mit mehr als 120.000 Menschen?
Sie alle wissen nicht, was links und was rechts ist.
Dazu kommen noch die vielen Tiere.
Sollte es mir da nicht leidtun?«

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