Verbrecher (Lukas 23,32-43)
Predigt von Prof. Dr. Peter Imming zum Semesterschlussgottesdienst am 09. Juli 2025
Liebe Universitätsgemeinde, liebe Gäste!
Verbrecher ... ... Okay: Tauchen wir ein ins gelesene Geschehen. Lassen wir uns ein auf eins der berühmtesten Ereignisse der Weltgeschichte, indem wir überlegen, mit welcher der Personen wir uns gar nicht, ein bisschen oder ganz identifizieren können. Ich schicke ein Fazit voraus: Jeder Mensch findet sich wenigstens ein wenig in jeder der handelnden und leidenden Personen wieder.
Pilatus. Zwar wird er in der kurzen Passage nicht erwähnt, aber er gehört einfach dazu. Wahrscheinlich wäre er lieber in Cäsarea gewesen. Man fand dort übrigens eine Inschrift mit seinem Namen. Am Mittelmeer, so circa 100 km nordöstlich von Jerusalem. Dort hätte er in seiner Residenz entspannen können. Aber in Jerusalem war Passah, ein großes Fest der Juden und oft Anlass für Unruhen. Die musste er gegebenenfalls im Keim ersticken, sonst bekam er Ärger mit dem Kaiser. Seine Aufgabe im Fall Jesus? Das Richteramt auszuüben, was beinhaltete, dass er über schuldig und unschuldig befand und das Strafmaß festlegte. Welchen Befund äußerte er hier? Jesus ist unschuldig; bestraft ihn, wie ihr wollt. Damit überlieferte er ihn der Kreuzigung und stellte die Soldateska dafür zur Verfügung. Pilatus ist kein Namenloser und er ist nicht im Licht, sondern möchte in einer Grauzone bleiben. Er wäscht seine Hände in Unschuld und lässt den Unschuldigen als Verbrecher abführen.
Finden wir das bei uns wieder? Ja, wenn wir wider besseres Wissen und Gewissen vor Unrecht schweigen oder Unrecht geschehen lassen, weil wir sonst in Probleme geraten. Ein Beispiel aus dem Universitätsleben? Gefälligkeitsgutachten im Sinne von "eine Hand wäscht die andere", wobei beide dreckig werden und bleiben. Klar, dieses Beispiel reicht nicht an die Dimensionen der Kreuzigungsgeschichte heran. Aber die Quelle für die Falschheit ist dieselbe: Menschen.
Nun die Soldaten. Ein Historiker sagte mir einmal, dass schätzungsweise 10% der Menschen sadistische Neigungen haben, die sie (wir?) ausleben, wenn es Gelegenheit dafür gibt. Vor der eigentlichen Kreuzigung war Jesus von einer größeren Schar Soldaten mit Spott und Schlägen misshandelt worden. Am Kreuz trieben die kreuzigenden Soldaten ihren Spott mit ihm: "Sie traten zu ihm hin, boten ihm Weinessig an und sagten: »Wenn du der König der Juden bist, dann hilf dir selbst!« Die Soldaten machten ansonsten ihren Job. Gern nahmen sie noch einen kleinen Profit mit, indem sie Jesu' Kleidung unter sich aufteilten. Brauchte er ja nicht mehr. Praktisch-sachlich, banal, gefühllos. Wie schrecklich beobachten zu müssen, wie das letzte, was man hat, verteilt wird, während man qualvoll stirbt. Die Soldaten: Namenlose Sadisten, die sich ihrer Macht über die Verurteilten so sicher waren, dass sie die Finsternis ihrer Machtlust öffentlich auslebten. Überraschen konnten sie Jesus damit nicht: "Das Licht ist in die Welt gekommen, und die Menschen liebten die Finsternis mehr als das Licht, weil ihr Tun böse war", sagte er mal. Ob sie später Licht über das bekamen, was sie taten? Gehört hatten sie es ja: "Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun." Als Jesus gestorben war, gab der Hauptmann Gott die Ehre und sagte: "Dieser Mensch war ein Gerechter." Diese seine Einsicht in die Person Jesus lässt für ihn hoffen.
In unserer Zeit? Reality TV, sadomasochistische Filme und Romane, News über auch junge Menschen, die andere zu Tode quälen oder in sogenannten "sozialen" Medien in den Selbstmord manipulieren – es gibt zu viele Gelegenheiten für praktizierten Sadismus. Wieder ein kleines Beispiel aus dem Universitätsleben? Prüfer, die sich entspannen und Bestätigung abholen, indem sie Prüflinge quälen.
Nun die führenden Männer, auch als Oberste des Volkes bezeichnet. Peinlicherweise verhielten sie sich keinen Deut besser als die rauhen römischen Soldaten. "Anderen hat er geholfen, soll er sich doch jetzt selbst helfen, wenn er der von Gott gesandte Messias ist" – mit diesen Worten traten sie beim Gekreuzigten nochmal nach. Führende Männer müssen normalerweise viele Kompromisse machen und ihr Ego ins Zentrum stellen, um an die Spitze zu kommen. In diesem Handlungs- und Denkhorizont kommt nicht vor, was Jesus beseelte, in seinen eigenen Worten aus dem Lukasevangelium (Kap. 24): "Der Messias muss leiden und sterben, und drei Tage danach wird er von den Toten auferstehen. Und in seinem Namen sollen alle Völker zur Umkehr aufgerufen werden, damit sie Vergebung ihrer Sünden empfangen." Diese Welt – wir Menschen – waren ohne sein Opfer und Leiden nicht ans Licht zu bringen. "Das Volk, das im Finstern wandelt, sieht ein großes Licht, und über denen, die da wohnen im finstern Lande, scheint es hell", wurde über den Messias prophezeit (Jesaja 9).
Passt dieser Jesus ins Universitätsleben? Ja! Sehr gut! - durch Universitätsgottesdienste, durch den Dienst der theologischen Fakultät und der Studierendengemeinden an der Universität, durch die Orientierung und Stärkung, die Studierende wie Lehrende, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der persönlichen Beziehung zu Gott erleben. Der Ministerpräsident unseres Bundeslandes, Herr Dr. Haseloff, sagte vor ein paar Jahren im Universitätsgottesdienst: "Christentum ist keine Religion, sondern eine persönliche Beziehung zu Gott durch Jesus."
Dann der Vater. Jesus spricht den Vater an. Darin steckt das geoffenbarte Geheimnis Gottes: Er ist Einer, aber Er wendet sich uns Menschen in verschiedenen Beziehungen zu. Wenn wir das mit dem Verstand erfassen könnten, wären wir Gott. Sind wir aber nicht. Und wenn wir die Dreieinheit auf eine theologische Formel bringen wollen, - ich erlaube mir diese für einen Naturwissenschaftler etwas übergriffige Bemerkung: - droht eine Kirchenspaltung.
Jesus sagt zweimal "Vater": einmal als er um Vergebung bittet, und dann beim Sterben: "Vater, in deine Hände gebe ich meinen Geist!". Der Vater bleibt namenlos. Er ist im Licht. Er ist Respekts-, Autoritäts- und Vertrauensperson, und die werden nicht mit Namen angeredet. Wenn wir nachher das Vaterunser beten, dann lassen Sie es uns in der vertrauenden Weise tun, die Jesus uns ermöglicht und vormacht. Erst ermöglicht und dann vormacht, Sacramentum vor Exemplum.
Geht eine Übertragung aufs Universitätsleben? Können wir uns ein klein wenig im Vater wiederfinden und seinen Charakter nachahmen? Ich denke, wir können: Als Lehrende, die Autorität mit Güte ausüben. Als Leiterinnen und Leiter, die Vergebung leben. "Vergib uns unsere Schuld" - eine lebensnotwendige Bitte. "Wie auch wir vergeben unseren Schuldigern" - wem viel vergeben wird, der kann viel vergeben.
Nun zu Messias – König – Jesus. Jesus ist schon in unserem kurzen Text ein Mensch vieler Titel. Er ist der Messias. Das ist das hebräische Wort für das griechische Christus. Beides bedeutet "der Gesalbte". Der britische König Charles der Dritte ließ sich nicht nur krönen, sondern auch salben. Darin folgte er der alttestamentlichen Praxis, Könige durch und mit Salbung ins Amt einzusetzen. König und Messias/Christus sind also überlappende Titel für Jesus. Der Titel Messias/Christus steht im Kontext der langen Geschichte, wie Gott uns, die Menschheit, wieder zum Vertrauen an ihn, an Gott, zurückführen will. Vertrauen kann man nicht erzwingen wollen, auch Gott will es nicht. Daher knüpfte er immer wieder bei Menschen an und kündigte an, einen Retter zu senden. Der Name Jesus ist Programm. Jesus heißt "Gott ist Retter". Wovon oder wovor müssen wir denn gerettet werden? Der schreckliche Scheinprozess um Jesus und Millionen ähnliche Ereignisse geben die Antwort: Wir Menschen müssen von uns selbst gerettet werden. Und vom Tod. Wenn das namenlose Entsetzen der Menschheitsgeschichte nicht in ewige Dunkelheit münden soll, dann brauchen wir einen Retter. Ich zitiere aus dem Johannesevangelium (Kap. 1): "In ihm war das Leben, und dieses Leben war das Licht der Menschen. Das Licht leuchtet in der Finsternis, und die Finsternis hat es nicht auslöschen können. ... Er, der das Wort ist, wurde ein Mensch von Fleisch und Blut und lebte unter uns. Wir sahen seine Herrlichkeit, eine Herrlichkeit voller Gnade und Wahrheit, wie nur er als der einzige Sohn sie besitzt, er, der vom Vater kommt."
Taugt Jesus als Vorbild im Universitätsleben? Ja! - um uns bereit zu machen, Opfer zu bringen – zum Beispiel Zeit für etwas zu opfern, was uns direkt nichts nützt. Oder wenn wir für andere einstehen, wo es ihnen zu viel wird. Wenn wir abgeben können, auch wenn wir dann viel weniger Mittel haben. Wenn wir Spott und für uns peinliche Situationen ertragen, obwohl wir nicht daran schuld sind, und zugleich nicht versuchen, die Schuld weit von uns wegzuschieben.
Kommen wir endlich und schließlich zu den zwei Namenlosen, die mit Jesus gekreuzigt wurden.
Zuerst der uneinsichtige Verbrecher, der höhnt. Wir wissen nicht, was er und der andere verbrochen hatten. Im griechischen Urtext des Lukasevangeliums steht das Wort κακοῦργος, Übeltäter. Die Römer ließen Sklaven und Nichtrömer kreuzigen, um von Flucht und Vergehen abzuschrecken. Römische Bürger wurden nicht gekreuzigt – zu schmachvoll. Der römische Anwalt und Politiker Cicero schrieb ungefähr im Jahr 60 v.Chr.: "Was Kreuz heißt, soll nicht nur vom Leib der Bürger Roms fernbleiben, sondern auch schon von ihrer Wahrnehmung, ihren Augen und Ohren." (Pro C. Rabirio perduellionis reo. 5,16) Kreuzigung führte ebenso sicher wie grausam zum Tod. Hier erlaube ich mir als Naturwissenschaftler den Hinweis auf einen Artikel im Journal of the American Medical Association (JAMA) 1986 mit dem Titel "On the physical death of Jesus Christ", ein rein medizinischer Fachartikel. JAMA ist eine international führende medizinische Fachzeitschrift. Die Autoren halten es für unmöglich, dass jemand eine Kreuzigung überlebt. Ich erspare uns die Details. Lukas und die anderen Evangelisten ersparen sie uns ja auch. Es ist unendlich traurig, dass dieser Verbrecher in seinen letzten Stunden aus Verzweiflung nur zu Hohn fand. Der andere, zu dem wir gleich kommen, wusste offensichtlich, wer da in der Mitte hing. Wusste der uneinsichtige Verbrecher es nicht? Er blieb bei der - verständlichen – Hoffnung, Jesus würde sich und die beiden anderen aus ihrer aktuellen Lage befreien. Der zweite Verbrecher wiederum meinte, sie – alle beide – bekämen, was sie verdienten. Diese Reue brachte der andere nicht auf. Wie furchtbar! Namenlos nicht ins Licht, während neben ihm das Licht - der Retter, Jesus - bereit war, ihm Zukunft zu schenken.
Nun der einsichtige Verbrecher, der bittet. Inmitten der grausigen Szene der drei Gekreuzigten jetzt ein Lichtblick. Dieser Übeltäter sieht ein, dass er Schreckliches getan hat und seine Strafe findet. Sein Zurechtkommen vor Gott schien unmöglich. Schmerzen, Todesangst, Spott und Glotzen der Menschen um ihn herum; die Unmöglichkeit, Genaueres über Jesus und Gott zu erfahren; die Größe seiner Schuld ... aber er verzweifelte nicht, sondern gab seine Schlechtigkeit zu und wandte sich an den einzigen, der ihm helfen konnte. Er fürchtete Gott, vor dem er nach dem Sterben stand. Und er hatte ein Bitte – keine Forderung: »Jesus, denk an mich, wenn du deine Herrschaft als König antrittst!« Jesus war in Judäa, Galiläa und Umgebung sehr bekannt. Im Zusammenhang der Kreuzigung berichtet Lukas, dass König Herodes viel von Jesus gehört hatte und ihn sehen und sprechen wollte. Dieser Übeltäter hatte auch viel von Jesus gehört. Jetzt wird ihm das Gehörte zu Hoffnung. Jesus reagiert sofort: »Ich sage dir: Heute noch wirst du mit mir im Paradies sein.« Mitten in der Hölle grausamen Leidens reißt Jesus den Himmel auf und zeigt das Paradies. Das macht allen Mut, die in ihrem Leben dunkle Flecken sehen. Die Macht der Gnade ist größer als unsere Schuld. Der Namenlose kommt zum Licht. Früher im Lukasevangelium (Kap. 10) sagt Jesus: »Freut euch, dass eure Namen im Himmel aufgeschrieben sind.« Ich glaube Jesus das und schließe daraus, dass zwar wir den Namen des Verbrechers nicht wissen, aber Gott weiß ihn. Und darauf kommt es an. Ein Name und damit ein Mensch ist im Licht und Leben, das Jesus schenkt. Der Verbrecher hatte Jesus auf seine Königsherrschaft angesprochen. Jesus antwortet mit Bezug auf die Entfaltung des Lebens. Das Paradies wird am Ende der Bibel erwähnt. Wer und was ist dort? Jesus; denn er sagte: Heute wirst du mit mir im Paradies sein. Dort ist auch der Strom des Lebens, der Baum des Lebens und eine Stadt mit dem Thron Gottes. Insgesamt ist es eine Harmonie des Zusammenlebens von Gott, erlösten Menschen und wiederhergestellter Schöpfung. Im Sinne unseres Semesterthemas gesprochen: Namen im Licht.
Nun noch das Volk. "Das Volk stand dabei und sah zu." erzählt der Evangelist. Heute abend schauen wir zu. Können wir neutral bleiben? Nur zuhören und wieder weggehen? Ich habe Anregungen für Identifikationen mit dem Geschehen gegeben. Wir erkennen uns wieder in der Gleichgültigkeit wie in den Schlechtigkeiten.
Wir erkennen auch, dass wir es dem einsichtigen, geretteten Verbrecher nachtun können. Darum bitte ich, in Jesu' Namen.