Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

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Thomas (Joh 20,24-29)


Predigt von Studierendenpfarrerin Ulrike Scheller im Universitätsgottesdienst am 1. Dezember 2024 in der Laurentiuskirche

I 1 Haufen Buchstaben

Einen Haufen Buchstaben.

Mehr hab ich nicht.
Weiche,
sperrige,
welche von gestern:
Buchstaben Wörter Sätze –
mehr nicht.

Weil: Ich
war ja nicht dabei.
Als Jesus lebte.
Und als er starb.
Als er sich dann zeigte und wiederkam –
ich war nicht dabei.

Einen Haufen Buchstaben,
mehr hab ich nicht.

Dort also: die Bibel.
Und hier also: ich.

Zwischen uns:
Abstand.
Gemacht aus Zeit und Raum.

Und in der Luft
schon Glühweinduft,
auch der feine Geschmack von Vanille.

Denn zwischen uns, der Bibel und mir,
da liegt heute auch,
ganz prominent und unbeirrt,
der Advent.
Der erst noch werden will
wie in jedem Jahr,
und in diesem Jahr, das so schwer an sich trägt,
erst recht.

II Wunden

Ja, sagt Thomas, und:

Abstand, kenne ich,
die Worte der anderen, du warst nicht dabei,
willst selber sehen – ich weiß.

Was siehst du,
sagt Thomas,
wühlt in den Buchstaben
und hält mir seine Geschichte hin.

Ich sehe, sage ich,
schemenhaft,
aus einiger Entfernung:

Jesus, wieder aufgetaucht, wie aus dem Nichts.
Und dass er sich zeigt.
Und wie er sich zeigt.
So viel Welt auf der Haut.
Und auch unter der Haut –
so viel Welt.

Der lässt ja tief blicken,
das seh ich auch von hier.

Jesus zeigt mir seine Wunden.

Und sieht mich an,
als stünde nichts zwischen uns,
Jahrhunderte nicht, nicht die Fragezeichen im Kopf
und auch nicht das, was die Tage so mürbe macht.

Er sieht mich an,
als würde er sagen:
Zeige deine Wunde, auch du,
du darfst.

Und ich zeige.
Ich zeig ihm, wo es überall wehtut,
vor allem an Stellen, die man nicht sieht.

Aber Jesus, der sieht.
Mich und alles
und den ganzen Schlamassel.
So viel Welt auf der Haut.

Mit heiler Haut werden wir nicht davonkommen.
Nicht mal du, Jesus, sag ich,
dabei bist du doch Gott.

Nicht mal ich, sagt er.

Mit heiler Haut werden wir nicht davonkommen –
aber mit ehrlicher Haut.
Sage ich.

Jesus nickt.
Thomas nickt auch.

Da sind wir.
Verbunden.
Die Gemeinschaft der Angeschrammten.
Die Gemeinschaft derer,
die verletzlich sind ihr Leben lang wegen Haut und Herz und Welt.
Wir sind die mit den Wunden,
ganz schön fragil.
Wir sind verbunden.

III Wunder

Ohne Wunden kommen wir nicht davon, sagt Jesus.

Aber ohne Wunder
auch nicht.

Und ich, ich denke: Du musst es ja wissen.
Und sage: Stimmt,
bist ja auch wieder da, nach allem, was war.
Bist du wirklich? Du bist doch?

Bin ich.

Manchmal höre ich das.
Und dann glaube ich das:
Hinter der Wirklichkeit geht’s weiter.

Hinter der Wirklichkeit, da geht’s weiter.
Hinter der Tapete.
Hinter der Statistik.
Hinter den Berechnungen.

Und ich denk an den blöden Kalenderspruch
von der Zeit, die alle Wunden heilt.
Macht sie nicht, denke ich.
Die Zeit heilt nicht alle Wunden.

Aber.
Gott hängt manches Wunder daneben.
Gott legt und stellt, schiebt Wunder in die Welt.

Manche sind granatapfelrot,
andere weich wie Engelsflügel
(dabei weiß ich gar nicht, ob Engel Flügel haben,
es klingt aber schön, drum lass ich das so).
Manch ein Wunder wiegt kaum 500 Gramm, wenn es voreilig geboren wird,
und springt Jahre später fidel durch die Landschaft.

Welche verlieren die Hoffnung nicht, nie.

Und andere kochen Tütensuppen für die Soldaten an der Front.
In der Freiwilligenküche in Lwiw, Ukraine.
Mano kommt aus Frankreich, Kurt-Christoph aus Brandenburg,
ein Hochzeitspaar aus Island verbringt hier die Flitterwochen
zwischen Kürbissen und Kartoffeln.
Malvina spielt Geige auf Kreuzfahrtschiffen und zwischendurch
schält sie hier Paprika.
Hier gibt’s keinen Chef, niemand führt Buch, der Laden läuft.
Unverdrossen wird geschnippelt, gekocht:
Buchweizensuppe, Borschtsch, auch vegan –
und Walnüsse werden in Honig eingelegt. 1

Gott schickt manches Wunder in die Welt.
Bitte, da habt ihr!

Gott gibt alles –
auch sich.

Hier bin ich, sagt Jesus.

Bin bald wieder klein da,
fang jedes Jahr von vorne an –
und Weihnachten wird,
ihr werdet schon sehen.

Und in der Luft
ein Hauch Mandelduft,
auch der feine Geschmack von Vanille.
Und Orangen.
Und Lebkuchen.

IV Wo was fehlt

Wir sind verbunden.

Die Gemeinschaft der Angeschrammten.
Derer mit den Wunden.
Wir sind die mit der Sehnsucht
nach glühweinwarmen Herzen.

Hab ich, sagt Thomas,
Herz und die Sehnsucht, die geht ja nicht weg:
dass ich Gott wirklich hätte.
Dass Gott kommt und bleibt
und Punkt.

Herz und Sehnsucht
hab ich auch, sage ich.

Weil so wahnsinnig viel fehlt.
Dass Menschen heil werden, innen und außen.
Und dass Frieden ausbricht.

Und wenn ich mir was wünschen könnte,
dann wünschte ich mir,
dass Gott seinen Advent in den Schützengräben verbringt,
in der Ukraine, in Gaza, in Syrien, im Libanon.
Und überall dort, wo etwas fehlt.
Überall dort, wo jemand fehlt –
wie wär’s, Gott.

Ich hoffe groß –
schließlich ist Advent.
Dafür ist er ja da.

In aller Kühnheit hoffen,
dass Gott kommt und bleibt
und Punkt.

Und dann
wird Licht.

V Advent!

Bis dahin:

Lasst uns Advent machen,
so gut wir können.
Für den Rest sorgt Gott.

Lasst uns dem Advent auf die Sprünge helfen –
er hat‘s ja auch nicht immer leicht.

Räuchermännchen: raus aus dem Keller.
Nussknacker, bewegt euch!
Zimt und Nelken, ab auf den Herd!

Lichterketten: Fädelt euch in Fenster und Büsche,
in vertrocknete Topfpflanzen auch, wenn’s sein muss.
Und ich glaube: Es muss.

Fliegt, Engel, fliegt.

Und all ihr Sterne – macht Ballett!

Advent ist, wo was fehlt.
Wo was fehlt, ist Advent.

Lasst uns herbeiglauben,
bis die Tanne sich biegt:
Dass Gott wirklich kommt.

Ist ja alles da dafür:
ein herrlicher Haufen Buchstaben.

Und da greif ich jetzt mittenrein
und hole raus:
ein B ein A ein L ein D –
vier, die sich gefunden haben.

Dann verteile ich das BALD in der Nacht.

Ich hänge das Wort in Bushaltestellen.
Und lasse es fallen:
in Jackentaschen und Wundertüten.

Danach fahr ich
mit dem Wort
ein paar Runden Riesenrad.
Und streue es von dort in alle Richtungen.
Es küsst zuerst das Wolkenschaf,
dann Türme und Hochhäuser,
fällt in wilde Ecken
und wunde Herzen,
und wo es das macht, geht ein sanftes Licht an.

Vier Buchstaben.

Sie stecken voller Sehnsucht,
verraten nur die Hälfte.
Sagen wenig,
versprechen viel:

BALD, flüstern sie.

Ihr werdet schon sehen.

AMEN


1 Lars Reichardt, Mit Borschtsch gegen Putin, in: Süddeutsche Zeitung Magazin Nr. 48, 29.11.2024, 16ff.

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