Tag des Herrn (1.Thess 4,13-5,11)
Predigt von Bischof Dr. Gerhard Feige im Universitätsgottesdienst am 19. Januar 2025 in der Laurentiuskirche
Die Zeit eilt dahin. Viele, mit denen wir unterwegs waren, hat schon das Ende ereilt. Und uns, die wir hier versammelt sind, steht das noch bevor. Wohin aber geht die Reise? Diese Frage hat auch Wolfgang Borchert, einen der bekanntesten Autoren der Trümmerliteratur nach dem Zweiten Weltkrieg, obwohl nur 26 Jahre alt geworden, zutiefst beschäftigt. „Wohin“ – so heißt es in einem seiner Texte – „fahren wir denn? Frag‘ ich die anderen. Wir müssen doch wissen, wohin? Da sagt Timm: Das wissen wir auch nicht. Das weiß keine Sau. Und alle nicken mit dem Kopf und brummeln: Das weiß keine Sau. Aber wir fahren … Tingeltangel, macht die Klingel der Straßenbahn. Und keiner weiß: wohin? Und alle fahren mit. Und keiner weiß – und keiner weiß – .“
Ist das die Antwort und unsere Perspektive? Ein Weg ohne Zukunft.
Erstaunlicherweise hat der Physiker und Philosoph Carl Friedrich von Weizsäcker, der von 1912 bis 2007 lebte, die Erwartung der Wiederkunft Christi einmal als den wichtigsten Glaubenssatz bezeichnet, den die Christenheit wieder neu entdecken müsse. Für die frühe Kirche war das noch anders. Existentiell von dieser Vorstellung herausgefordert, verbanden sich damit viele Fragen: Wie lange wird es noch bis zu jenem Zeitpunkt dauern? Wann wird der sogenannte Tag des Herrn sein? Was wird bis dahin und danach geschehen? Und welches Schicksal wird denen beschieden sein, die vor der Wiederkehr bereits verstorben sind? Die junge Christengemeinde in Thessalonich trieb das gehörig um, sie lebte in Erwartung der Endzeit – auf die letzten Dinge hin.
Die Aktualität der Thematik, die sich in der Lektüre des Thessalonicherbriefes vor uns auftut, ist wirklich bemerkenswert. Herrschte lange Zeit unter aufgeklärten Menschen des 20. Jahrhunderts die Vorstellung, dass alles nur besser werden könne – gewissermaßen sogar so etwas wie ein Fortschrittswahn –, macht sich inzwischen manchmal fast eine Endzeit- oder Weltuntergangsstimmung breit. Wie lange wird die Erde uns noch tragen – oder besser gesagt: ertragen können? Wie wird es den nachfolgenden Generationen ergehen? Wie wird deren Leben aussehen? Werden sie überhaupt noch eine Zukunft haben? Ähnlich wie die junge Gemeinde in Thessalonich ist es auch heute überwiegend die junge Generation, die die Frage nach der Zukunft stellt. Gleichzeitig scheint es ein Merkmal des Alters zu sein, zurückzublicken und die Gegenwart an der Vergangenheit zu messen. Beides aber steht in der Gefahr, den aktuellen Augenblick ungenutzt verstreichen zu lassen und als Gestaltungsraum zu verkennen. Diesen jedoch fruchtbar zu nutzen, dazu – so meine ich – ermutigt der Apostel Paulus die Thessalonicher (1Thess 5,5), wenn er sie „Söhne des Lichts und Söhne des Tages“ nennt.
Vom „Tag des Herrn“ zu sprechen, ist ein gängiger Topos im Alten Testament. Damit verbindet sich aber nicht allzu Erfreuliches. So heißt es schon im Buch des Propheten Amos (Am 5,18-20): „Weh denen, die den Tag des Herrn herbeisehnen! Was nützt euch denn der Tag des Herrn? Finsternis ist er, nicht Licht. Es ist, wie wenn jemand einem Löwen entflieht und ihn dann ein Bär überfällt; kommt er nach Hause und stützt sich mit der Hand auf die Mauer, dann beißt ihn eine Schlange. Ist nicht der Tag des Herrn Finsternis und kein Licht, Dunkel und ohne Glanz?“ Ein Tag des Gerichts soll also der „Tag des Herrn“ sein. Auch der Prophet Zefanja beschreibt ihn düster (Zef 1,14f.): „Ein Tag des Zorns ist jener Tag, ein Tag der Not und der Bedrängnis, ein Tag des Krachens und Berstens, ein Tag des Dunkels und der Finsternis, ein Tag der Wolken und der schwarzen Nacht.“ „Schreit auf" – lesen wir bei Jesaja (Jes 13,6) – „denn der Tag des HERRN ist nahe; er kommt wie eine zerstörende Macht vom Allmächtigen.“
Dieser Tag, der „wie ein Dieb in der Nacht“ kommt, ohne jede Ankündigung, überraschend und unausweichlich, wer würde nicht wissen wollen, wann mit ihm zu rechnen ist, um gewappnet zu sein? Schroff weist Jesus – wie wir in der Apostelgeschichte lesen können (Apg 1,7) – dieses Bedürfnis, das auch die Apostel beim gemeinsamen Mahl mit ihm äußern, zurück: „Euch steht es nicht zu, Zeiten und Fristen zu erfahren, die der Vater in seiner Macht festgesetzt hat.“ Ja, „[…] jenen Tag und jene Stunde kennt niemand […] nur der Vater.“ (Mk 13,32)
Offensichtlich hat Jesus über den Zeitpunkt der Parusie keine Angabe gemacht. Und so ist es auch nicht verwunderlich, dass die frühen Christinnen und Christen in der Frage, was sie zu erwarten haben, mit dem Gefühl lebten, im Dunkeln zu tappen. Paulus aber führt sie mit seinen eschatologischen Ausführungen vom Dunkel wieder ans Licht (1Thess 5,4f.): „Ihr aber, Brüder und Schwestern, lebt nicht im Finstern, so dass euch der Tag nicht wie ein Dieb überraschen kann. Ihr alle seid Söhne des Lichts und Söhne des Tages.“ „Darum“ – so fordert er sie auf (1Thess 5,6) – „wollen wir nicht schlafen, wie die anderen, sondern wach und nüchtern sein.“ Wenn ihr aber – so könnte man ihn rufen hören – wirklich glaubt, dass Jesus gestorben und auferstanden ist, dann nehmt die Gegenwart in die Hand und macht etwas daraus.
Ja! „Nur wer an eine endgültige Zukunft der Welt glaubt, kann sich gewissenhaft in den Dienst dieser Welt stellen. Nur wer an die Zukunftsverheißung Gottes glaubt, wird weder dieser Welt verfallen noch ihr entfliehen. Der christliche Glaube an Gottes Heilswillen, seine Liebe und Treue befähigt daher erst zu einem verantwortungsbewußten, einsatzbereiten und hoffnungsvollen Leben in dieser Welt.“1
Wie aber kann ein solches verantwortungsbewusstes, einsatzbereites und hoffnungsvolles Leben aussehen? Das Gleichnis von den anvertrauten Talenten – wie es im Matthäusevangelium überliefert ist (Mt 25,14-30) – kann dabei durchaus anregend sein. Ich will es uns kurz ins Gedächtnis rufen: Ein Mann, der auf Reisen ging, ruft seine Diener zusammen und vertraut ihnen sein Vermögen an. „Dem einen gab er fünf Talente Silbergeld, einem anderen zwei, wieder einem anderen eines, jedem nach seinen Fähigkeiten.“ Der Diener mit den fünf Talenten wirtschaftet klug mit dem ihm anvertrauten Vermögen und kann es dadurch verdoppeln. Ebenso der zweite Diener, dem zwei Talente zur Verwaltung gegeben wurden. Der dritte aber gräbt ein Loch in der Erde, um das ihm anvertraute Talent zu bewahren. Als der Mann von seiner Reise zurückkommt, hält er Abrechnung mit seinen Dienern.
Die ersten beiden gehen auf das Vertrauen ihres Herrn ein; sie wissen sich seinem Großmut verpflichtet. Wie er ihnen alles übergibt, so tun sie es ihm gleich. Sie riskieren den ganzen Einsatz. Ihre Hände empfangen und öffnen sich wieder. Sie setzen alles aufs Spiel und gewinnen alles: „Geh ein in die Freude deines Herrn.“ Christus schenkt umso mehr, je mehr jemand gibt.
Doch da ist nun auch der dritte Mann, die zentrale Figur des Gleichnisses. Fast könnte man sagen: eine tragische Figur. Er hat nichts Widerrechtliches getan. Er hat das Geld des Herrn nicht beim Glücksspiel oder in Kneipen verjubelt. Nein. Er will nur ganz sichergehen. Keine Experimente, so heißt seine Devise. Und er glaubt sich dabei im Recht. Er will sich und das Talent nach allen Seiten absichern. Darum gräbt er auch das Loch in die Erde. Denn er hat Angst: Angst vor den Mitmenschen, dass sie ihn bestehlen könnten, aber auch Angst vor dem Herrn, von dem er unverständlicherweise das Bild eines strengen und habgierigen Despoten hat. Der Herr bleibt ihm so fremd wie das Talent, das er von ihm bekommen hat. Er lässt sich nicht darauf ein, sondern will sich – äußerlich korrekt – heraushalten. Angst steht über seinem Leben, Angst statt Vertrauen, und damit ist jede Initiative lahmgelegt. Seine Hand öffnet sich nicht, das Empfangene einzusetzen, und so wird alles, was er tut, ein Krampf und verfällt dem Gericht.
Es genügt offenbar nicht, nichts Schlechtes zu tun. Es genügt nicht, die Gaben zu pflegen und sie gewissenhaft zu bewahren. Das Vertrauen, das der Herr uns mit ihnen schenkt, ruft nach eigener schöpferischer Initiative und Verantwortung. Wer das Empfangene krampfhaft zurückhalten und absichern will, der wird auch das noch verlieren, was er hat. Ist das nicht auch heutzutage eine Gefahr? Verzagen nicht viele z.B. an der Kirche oder haben Angst, dass sie einstürzt? Um den Bestand zu sichern, werden gewissermaßen Löcher in die Erde gegraben und Bunker angelegt. Das Konservieren und „Alles-beim-Alten-lassen“ ist lange genug als Treue zur Tradition ausgegeben worden. So bequem und fantasielos ist die Treue zur Tradition aber nicht. Wer das ihm übertragene Talent – darin steckt unser Wort Tradition – vergräbt, der gräbt sich sein eigenes Grab. Der aber ist ein „treuer Knecht“, der die empfangene Gabe im Vertrauen, dass sie sich bewährt, hingibt.
Wird die Welt untergehen oder vollendet werden? Werden wir im Nichts versinken oder auch nach dem Tod noch eine Zukunft haben? Auf jeden Fall soll es ein Gericht geben, soll klar werden, welchen Sinn alles gehabt hat. Bildlich könnte man das an einem handgeknüpften orientalischen Teppich verdeutlichen. Bislang sehen wir nur wie dort die verwirrende Unterseite mit ihrem Durcheinander von Knoten und Fäden und ahnen höchstens, welche Muster sich daraus ergeben könnten, dann aber werden wir wie auf dessen Oberseite die klaren Formen und wunderbaren Farbgebungen erkennen. In manchen Zeiten hat man sich das, was da geschehen wird, fantasievoll oder auch skurril ausgemalt. Letztlich kennt aber niemand Einzelheiten. Nur so viel lässt sich damit verbinden: In unsere Wirklichkeit oder das, was wir dafür halten, wird ein Einbruch aus einer anderen Welt erfolgen. Dann werden wir Menschen gewiss nicht bleiben, was wir sind, sondern nach dem Bild Jesu Christi umgestaltet werden. Und auch unsere mehr oder minder vertrauten Vorstellungen von Gott werden sich verändern, wird er plötzlich als ein ganz anderer uns entgegentreten.
Die Zeit eilt dahin. Sind wir für das Kommen des Herrn gerüstet? Folgen wir dem Vertrauen und Mut der beiden ersten Knechte? Oder machen sich bei uns vielleicht eher die Angst und Engherzigkeit des dritten Knechtes breit? Noch ist es nicht zu spät zum Aufbruch. Noch ist alles offen. Werden wir das Risiko der Hingabe wagen?
Jesus Christus ist unser Ziel. Nicht nur Tod und Grab warten auf uns. Und schon jetzt steht unser Leben im Licht seines Kommens. Für die, die an Christus glauben – das lehrt Paulus – ist die Zeit zur Zwischenzeit geworden: Die zukünftige Heilswirklichkeit, im Christusgeschehen grundgelegt, ragt in die gegenwärtige Welt schon hinein.2 Wie wir bei seiner Ankunft dastehen, entscheidet sich bereits hier und heute. Unsere Zukunft entscheidet sich jetzt. Wie die Leute, von denen das Gleichnis spricht, können wir alles gewinnen und alles verlieren.
Das gilt nicht weniger für unsere ökologische und politische Lage. Wie lange uns die Erde noch erträgt und wie es auch politisch in unserem Land in den nächsten Jahren weitergehen wird, hängt in diesen Tagen auch davon ab, dass wir die Gegenwart als Gestaltungsraum verstehen, den wir verantwortungsbewusst und aktiv mitgestalten können. Lasst uns also wirken, solange es Tag ist.
1 Otto Knoch, 1. und 2. Thessalonicherbrief (= Stuttgarter Kleiner Kommentar. Neues Testamant 12), Stuttgart 1987, 55.
2 Franz Laub, 1. und 2. Thessalonicherbrief (= Die neue Echter Bibel. Kommentar zum Neuen Testament mit der Einheitsübersetzung), Würzburg 21988, 31.