Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

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Staub? (Pred 3,16-21)


Predigt von Dr. Kerstin Menzel im Universitätsgottesdienst am 15. Dezember 2024 in der Laurentiuskirche

Gnade sei mit euch von dem, der da ist, der da war und der da kommt!

I

„Staub“ – so ist die Überschrift dieses Universitätsgottesdienstes, liebe Schwestern und Brüder. „Das Ende aller Dinge“ – das Thema dieses Semesters.

Alles Fleisch ist Gras, und alle seine Güte ist wie eine Blume auf dem Felde. 7Das Gras verdorrt, die Blume verwelkt; denn des Herrn Odem bläst darein. Ja, Gras ist das Volk! (Jes 40,6b-7, Lesung im GD)

Am Grab wird es immer wieder in Erinnerung gerufen. „Erde zur Erde, Asche zur Asche, Staub zum Staube.“ Viele Angehörige bestellen und werfen Blumen. Als Pfarrerin habe ich die Bestatter immer gebeten: ich will Erde. Wenigstens an meiner Geste sollten sie es sehen. „Erde zur Erde, Asche zur Asche, Staub zum Staube.“ Weil die Konfrontation zur Bestattung dazu gehört. „Wir haben uns hier versammelt, um Abschied zu nehmen…“ Der Tod setzt ein Ende. Oft greifen nach mir auch andere in die dunklen Brocken. Dahin geht unser Weg.

Der Prediger Kohelet schreibt:
20Alle gehen an ein und denselben Ort, von dem es heißt:
»Alle sind aus Staub und kehren zum Staub zurück.« (Pred 3,20)

Wie leben wir angesichts der Endlichkeit und der Vergänglichkeit menschlicher Bestrebungen?

II

Letztes Jahr war ich im nagelneuen Humboldt-Forum in Berlin in einer grandiosen Ausstellung (wie überhaupt die Ausstellungen in diesem furchtbaren Gebäude eine wirkliche Empfehlung sind). „un-endlich. Leben mit dem Tod“ – Ein Drama in fünf Akten.1 Diese Ausstellung ist mir seitdem immer wieder nachgegangen. Der Prolog war eine Videoprojektion – die Geschichte des Universums im Zeitraffer, 13,8 Milliarden Jahre alt. Würde man das auf 24 Stunden umrechnen, der Mensch wäre erst seit einer Sekunde da. Dann vier Akte über den menschlichen Tod: Vorstellungen über ein Leben nach dem Tod – wunderbare Interviews mit Berliner Vertreter:innen unterschiedlicher Religionen sowie einem Unternehmer für Cryokonservierung und einem Kriminalbiologen. Eine Liege, auf der einem die Fragen rund ums Sterben direkt ins Ohr geflüstert wurden. Eine Video-Konferenz von Sterbebegleiter:innen weltweit und ein Raum, in dem man alleine mit dem konfrontiert war, was in den letzten Momenten im Gehirn geschieht (eine riesen Entladungswelle, vor der jedes Silvesterfeuerwerk erblasst). Leichenversorgung und ihre Instrumente und die Ungleichheit des Sterbens zwischen Statistiken und Gegenständen von ertrunkenen Flüchtlingen. Trauergesänge. Und dann Akt 5: Die Spirale des Aussterbens. Japanisches Schuppentier, Beutelwolf, Floreana-Riesenschildkröte und Rotschwanz-Wieselmaki, Süßwasserschnecken- und Steckmuschelarten, Marschhummel und Flussuferwolfsspinne – ausgestopft aus dem Museum für Naturkunde, ausgestorben oder akut vom Aussterben bedroht. Und dann eine „Sinfonie des Werdens und Vergehens“ aus projizierten Mikroben und Mikroorganismen, mit denen wir in enger, unsichtbarer Symbiose leben. – Das menschliche Sterben: eingezeichnet in die Kosmologie und die Differenziert der belebten Welt.

18Ich dachte darüber nach, was mit den Menschen ist:, schreibt Kohelet:
[…] Dem Vieh sind sie gleich!
Am Ende ergeht es den Menschen wie dem Vieh.
19Beide trifft ein und dasselbe Geschick.
Wie die einen sterben, so sterben auch die anderen.
Alle beide haben ein und denselben Atem,
durch den Gott sie am Leben erhält.
Nichts hat der Mensch dem Vieh voraus.
Denn alle beide sind Windhauch!
20Alle gehen an ein und denselben Ort, von dem es heißt:
»Alle sind aus Staub und kehren zum Staub zurück.«
21Und was ist mit dem Lebensatem nach ihrem Tod?
Wer kann denn wissen,
ob er beim Menschen nach oben steigt,
bei den Tieren dagegen zur Erde sinkt?

Das Geschick der Menschen – und das Geschick der Tiere – ein Geschick – eines – für sie.2

Hinter alle – auch biblischen – Vorstellungen einer besonderen Natur des Menschen setzt Kohelet ein Fragezeichen. Gemeinsam geschaffen. Derselbe Geist, ruach, Atem.

Nichts hat der Mensch dem Vieh voraus. Keinen Gewinn, nach dem Kohelet immer wieder fragt. Nichts bleibt, das gilt für Menschen und Tiere.

Mensch und Tier halten Ausschau nach dir, so klingt es in Psalm 104, damit du ihnen Essen gibst zur richtigen Zeit.
[…] 29Wendest du dich ab, erschrecken sie.
Nimmst du ihnen den Lebensatem,
dann sterben sie und werden zu Staub.
30Schickst du deinen Lebensatem aus,
dann wird wieder neues Leben geboren.
So machst du das Gesicht der Erde neu. (Ps 104,27.29–30)

Oder in Psalm 49:
13Der Mensch kann nicht bleiben in seiner Pracht,
sondern muss davon wie das Vieh.

Die Tiere in der Spirale des Aussterbens, Japanisches Schuppentier, Beutelwolf, Marschhummel und Flussuferwolfsspinne würden hinter diese Gleichheitsvision wohl genauso ein Fragezeichen machen wie manche Schnellmast-Gans, die in diesen Tagen aus engen Gehegen in die Schlachtung geht.

Das Begleitheft im Humboldt-Forum zitiert den Evolutionsbiologen Matthias Glaubrecht: »[…] wir Menschen vernichten die Produkte der Evolution der Vergangenheit, ohne die aber unsere Lebensräume der Erde keine Zukunft haben werden. Es wäre das Ende der Evolution, wie wir sie kennen. Kein Zweifel: Das Leben wird andere Wege einschlagen, doch dann sehr wahrscheinlich ohne uns.«3

Alle beide haben ein und denselben Atem,
durch den Gott sie am Leben erhält.
Nichts hat der Mensch dem Vieh voraus.
Denn alle beide sind vergänglich.

III

Ich habe Ihnen bisher den Beginn des Predigttextes vorenthalten. Er folgt der bekannten Passage, in der alles seine Zeit findet. Geboren werden und sterben, klagen und tanzen, suchen und verlieren (Pred 3,1–8). Dem schließt sich eine Sequenz von Beobachten und Nachdenken, von Wahrnehmen und Reflektieren an (wie passend also für einen Universitätsgottesdienst).

Und die Beobachtung, mit der Kohelet bei der Vergänglichkeit der Menschen wie der Tiere landet, ist die fehlende Gerechtigkeit:

16Auch das beobachtete ich unter der Sonne:
An dem Ort, an dem Recht gesprochen wird,
herrscht jetzt das Unrecht.
Und an dem Ort, an dem Gerechtigkeit regiert,
herrscht jetzt der Frevler.
17Ich dachte also darüber nach:
Den Gerechten und den Frevler wird Gott richten!
Denn jedes Vorhaben und Tun hat bei ihm seine Zeit.

Da klingt es wieder an. Alles hat seine Zeit.
Auch das Gericht über den Frevel und den Frevler, die Recht und Gerechtigkeit korrumpieren.
Die das Recht verdrehen und der Grausamkeit Macht verschaffen.
Denn wenn An dem Ort, an dem Recht gesprochen wird,
jetzt das Unrecht herrscht.
Und an dem Ort, an dem Gerechtigkeit regiert,
jetzt der Frevler herrscht,
dann ist die Welt aus den Fugen.

Von dieser Wahrnehmung aus kommt Kohelet zur Vergänglichkeit.
Wir alle und damit eben auch die Frevler sind vergänglich.
Nichts Geraubtes und nichts Angehäuftes kann man mitnehmen, wenn man dann Staub ist.

17Ich dachte also darüber nach:
Den Gerechten und den Frevler wird Gott richten!
Denn jedes Vorhaben und Tun hat bei ihm seine Zeit.
18Ich dachte darüber nach, was mit den Menschen ist:
Gott wird mit ihnen ins Gericht gehen.
Und dann müssen sie erkennen:
Dem Vieh sind sie gleich!
»Alle sind aus Staub und kehren zum Staub zurück.«

IV

In diesen Wochen, in denen mir manchmal der Regen bis ins Herz dringt und die Zukunft so verstellt scheint. In denen ich mich vor einem Wahlkampf der eskalierten Befremdung von Menschen fürchte, die bei uns Zuflucht gesucht und oft längst ihren Platz gefunden haben. In denen ich mich frage, wie wir mit der Erde wieder in Gleichgewicht kommen, wenn sich so viele an ihre Privilegien und Bequemlichkeiten krallen. In denen so vieles rückwärts und nicht vorwärts zu gehen scheint, und das viele, was gut geregelt und vorangebracht wurde in den letzten Jahren aus dem Blick gerät. Wochen, in denen die autoritären Führer auf dieser Welt so viel Macht zu haben scheinen, Wahlgewinne durch Narzissmus und Erfolgstaktik von Kriegszermürbung. Was die Zukunft wohl bringen mag?

In diesen Wochen haben mich die Bilder aus Syrien berührt. Die Bilder der Menschen, die aus dem Foltergefängnis Saidnaya herausliefen, manche humpelnd, schreiend angesichts der unerwarteten Freiheit. Und diejenigen, die hineinlaufen, um ihre vermissten Familienmitglieder zu suchen. Die Bilder aus dem Palast von Assad, protziger Monumentalismus, die Festung eines Superreichen, der sein Volk verhungern lässt, und nun sitzen dort Familien in den Sesseln und machen Selfies, einer steht auf einem Schreibtisch und schraubt einen Kronleuchter ab.4 Die tanzenden Frauen in Sueda, einer Stadt, in der die Drusen sehr präsent sind. Viele dieser Frauen haben einen harten Preis dafür bezahlt, dass sie immer wieder gegen das Regime protestiert haben. Nun – strahlende Gesichter, Tanz, Musik, pure Freude.5

Man muss es nicht idealisieren. Die Toten der letzten Tage sind zu beklagen, auch wenn es unverhältnismäßig viel weniger sind, als das Regime auf dem Gewissen hat. Die Trauer beginnt für viele in Syrien erst jetzt, wenn sie Gewissheit über ihre Familienangehörigen finden werden. Und die Zukunft ist offen. Syrien bleibt Spielball der großen Mächte.

Doch für heute will ich mich mit den Frauen in Sueda, den Freigekommen und den Erleichterten einfach freuen. Auch eine Diktatur kann enden. Und vielleicht ist es eine Erinnerung an die anderen, die das Recht verdrehen und der Grausamkeit Macht verschaffen:
Gott wird mit ihnen ins Gericht gehen.
Und dann müssen sie erkennen:
Dem Vieh sind sie gleich! […]
»Alle sind aus Staub und kehren zum Staub zurück.«

V

Wie leben angesichts der Endlichkeit und der Vergänglichkeit menschlicher Bestrebungen? Kohelet begrenzt den Horizont der Zukunft.

Ein bisschen klingt es nach Berthold Brecht:
„Lasst euch nicht verführen!
Es gibt keine Wiederkehr.
Der Tag steht in den Türen;
Ihr könnt schon Nachtwind spüren:
Es kommt kein Morgen mehr.
[…]
Lasst euch nicht verführen
Zu Fron und Ausgezehr!
Was kann euch Angst noch rühren?
Ihr sterbt mit allen Tieren
Und es kommt nichts nachher.“6

Wie leben angesichts der Endlichkeit und der Vergänglichkeit menschlicher Bestrebungen. Alles ist Windhauch, Staub, Nichtigkeit. Kohelet prüft unser Leben an der Radikalität des Todes. Will Erde, keine Blumen. Kürzt den Horizont der Zukunft ein, widerspricht wie Brecht jeder Vertröstung. Auch sein Fazit habe ich Ihnen noch vorenthalten und es klingt ähnlich nach „carpe diem“ wie Brecht es empfiehlt.

Ich lese noch einmal von Beginn, damit die Argumentation hörbar wird:

16Auch das beobachtete ich unter der Sonne:
An dem Ort, an dem Recht gesprochen wird,
herrscht jetzt das Unrecht.
Und an dem Ort, an dem Gerechtigkeit regiert,
herrscht jetzt der Frevler.
17Ich dachte also darüber nach:
Den Gerechten und den Frevler wird Gott richten!
Denn jedes Vorhaben und Tun hat bei ihm seine Zeit.
18Ich dachte darüber nach, was mit den Menschen ist:
Gott wird mit ihnen ins Gericht gehen.
Und dann müssen sie erkennen:
Dem Vieh sind sie gleich!
Am Ende ergeht es den Menschen wie dem Vieh.
19Beide trifft ein und dasselbe Geschick.
Wie die einen sterben, so sterben auch die anderen.
Alle beide haben ein und denselben Atem,
durch den Gott sie am Leben erhält.
Nichts hat der Mensch dem Vieh voraus.
Denn alle beide sind Windhauch!
20Alle gehen an ein und denselben Ort, von dem es heißt:
»Alle sind aus Staub und kehren zum Staub zurück.«
21Und was ist mit dem Lebensatem nach ihrem Tod?
Wer kann denn wissen
ob er beim Menschen nach oben steigt,
bei den Tieren dagegen zur Erde sinkt?
22Da erkannte ich:
Es gibt kein größeres Glück für den Menschen,
als dass er sich seines Lebens freut.
Ja, das ist sein Anteil.
Denn wer kann ihn dazu bringen,
dass er Einblick in die Zukunft gewinnt? (Pred 3,16–22)

Als dass er sich seines Lebens freut. Dass er sich freut in seinem Tun, seiner Arbeit, lässt sich auch übersetzen. Und mit Arbeit ist nicht nur das Studium gemeint oder die berufliche Arbeit, sondern alles, was manchmal auch Mühe macht: Beziehungsarbeit, Sorgearbeit, Erziehungsarbeit, Überzeugungsarbeit, politische Arbeit. Für Kohelet ist es die Zeit unseres Lebens, die wir gestalten können, in der wir uns um Klugheit, Frömmigkeit und Gerechtigkeit bemühen können. Darin sollen wir Glück finden, in der Gegenwart leben.

Und doch gibt es mehr als die Nüchternheit und das „carpe diem“ bei Brecht. Nicht nur die Gegenwart, auch die Zukunft ist Gottes Zeit. Gott, der richtet über Fromme und Frevler. Der, um noch einmal mit Jesaja zu sprechen, gerade macht, was uneben ist, und eben, was hügelig ist. Das Kommen Gottes im Advent schiebt die Zeiten ineinander. Jeden Tag kann der Messias kommen. Der Kommende ist längst da und der Gegenwärtige kommt uns entgegen.

Gott, bei der alles seine Zeit hat und die dem Menschen die Ewigkeit ins Herz gelegt hat, wie es im selben Kapitel unseres Predigttextes heißt. Gottes Pläne durchschauen wir nicht, aber Gottes Gerechtigkeit ist der Horizont. Auf diese warten wir im Advent und rechnen jeden Tag mit ihrem Ankommen.

Am Grab folgt dem Erdwurf das Auferstehungswort, vor allem aber der Segen. Die Abwendung vom Loch mit der dunklen Erde und die Zuwendung zur Gemeinde und der Zuspruch für das Leben, in das sie von dort gehen.

So wie das Lied, das wir miteinander singen, endet:

Segnet das Volk, sagt euer Gott, ihr seid das Licht der Welt.
Friedensinn und Gerechtigkeit zählt mehr als Macht und Geld. Baut eure Stadt nach Gottes Rat, damit er Einzug hält.

Der Segen Gottes bleibe bei euch alle Zeit.


1 Zum Folgenden Begleitheft "un_endlich - Leben mit dem Tod"   

2 Kohelet. Der Prediger Salomo, Übersetzt und erklärt von Melanie Köhlmoos, Das Alte Testament Deutsch Bd. 16.5, Göttingen 2015, S. 125-131, 129.

3 A.a.O., 44.

4 https://www.zeit.de/politik/ausland/2024-12/pluenderung-praesidentenpalast-damaskus-baschar-al-assad-syrien-fs   

5 Video hier: https://www.zdf.de/nachrichten/politik/ausland/liveblog-syrien-buergerkrieg-assad-rebellen-islamisten-100.html   

6 Bertolt Brecht: Gegen Verführung, in: Die Gedichte in einem Band, Frankfurt 1990, 260.

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