Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

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Sophia (Spr 8,22-36)


Predigt von Universitätsprediger Prof. Dr.
Friedemann Stengel zum
Semestereröffnungsgottesdienst am 01. April 2025

Liebe Universitätsgemeinde, liebe Stadtgemeinde, liebe Gäste!

Die vermeintliche Namenlosigkeit, die ans Licht soll, sie beginnt mit einer Irritation. Es wär ein Leichtes gewesen, werden Sie sich denken, mit einer der zahllosen namenlosen Leute zu beginnen, die die Bibel beider Testamente bereithält. Leute, die nur im Vorbeigehen genannt werden, manche völlig kommentarlos, einige mit Attributen, einige mit erzählten Geschichten, andere mit Geschichten, die man selbst erzählen könnte. Darunter etliche, deren Anonymität uns ins Nachdenken bringt, gerade weil doch der Name solch eine zentrale Rolle spielt: Ich habe dich bei deinem Namen gerufen, du bist mein (Jes 43,1). Eine Aneignung, die Gottes Zusage an uns ganz persönlich an unseren ganz persönlichen Namen bindet, ganz bestimmt mehr als das hallesche „Meiner“ und „Meine“, das man durchaus als Vertraulichkeitszeichen hören darf und nicht als übergriffigen Besitzanspruch hören muss – es sei denn, es ist ein bestimmter Unterton dabei, der vermuten lässt, dass da jemand eventuell zu Brust genommen werden soll.

Namensgebung bleibt etwas Mysteriöses. Denn wir sollen einzig sein, einzigartig durch unseren Namen. Aber Namen gibt’s wie Sand am Meer, sie sind austauschbar, sind wir es auch? Wie sollte ein Name unsere Einzigartigkeit in sich fassen, unser Wesen, unsere Natur, die sich jeder Sprache entzieht und doch ohne Sprache nicht zu denken ist. Anders als die vielen Namenlosen sind wir kein Ort der Phantasie, meinen wir. Wir fühlen uns an, wir werden gefühlt, wir erfahren. Wir haben Geschichte und Geschichten, alles das ist in Namen nicht zu fassen und ohne Namen nicht auzudrücken.

Am Anfang der Reihe Namenlose ans Licht steht eine Irritation – und eine Namenswerdung. Weisheit spricht, ja mehr: sie ruft und schreit sogar zu Leuten und Menschenkindern. Es ist eine sie, die da ruft. Und ihr Name ist nur in der Übersetzung ein Name geworden, die Menschenfrauen um uns herum tragen. Wesen werden Namen, aber sie haben Kraft und Ansprüche, noch bevor sie Namen haben. Namenlosigkeit ist nicht Kraftlosigkeit. Aber Kraft und Wesen nennt sich, wird benennbar, definierbar, eingrenzbar, beherrschbar, ansprechbar, erinnerbar, vergessbar. Und kann zum Sprechen, Rufen, Schreien, Flüstern gelangen.

Doch Sophia, die da spricht, trägt nur im Griechischen einen Menschennamen, im Lateinischen gräbt sich Sapientia tief in unsere kollektive Namensgebung ein als homines sapientes. Am Anfang steht die Weisheit, die einen hebräischen Namen trägt: Chokhma. Sie ist auch hier im Genus weiblich, mit erheblichem schöpferischem Selbstbewusstsein. Sie kommt daher mit Ewigkeitsanspruch, noch vor der Schöpfung ist sie dagewesen. Natur und alles, was gemacht ist, in unaussprechlicher Schönheit, durchdachter Struktur, von den Tiefen des Meeres, über Erdboden, Hügel, Himmel, Grundfesten der Erde – vor unserem Auge entsteht das. Und bevor das alles da war, da hat Gott sie gehabt, sie hat zu ihm gehört (und die Übersetzungen schwanken, ob sie geschaffen ist oder von Gott gehabt wurde). Weisheit Sophia ist von Ewigkeit. Sie ist Gottes engste Begleiterin, die Übersetzungen sprechen von Schoßkind, wie eine Architektin und Werkmeisterin. Nicht mit ihm, aber vor Gott spielte sie täglich und sie war seine Lust, seine Wonne. Und sie hatte sogar täglich ihre Lust an den Menschenkindern.

Gottes Gespielin? Was für eine Vorstellung! Betörend und verstörend. Ein nicht geschaffenes göttliches Wesen weiblichen grammatischen Geschlechts, durch das und mit dem Gott die Welt geboren hat und gebiert, gebärende Seite Gottes, vorgestellt als Frau, immer schon da, damit aus Gott etwas werde, was nicht er ist.

Von Ewigkeit sind nicht die Binaritäten. Und nicht die Nonbinaritäten. Sondern bevor etwas war, war Weisheit als Gottesgebärende, Gottesgeburt. Chokhma war von Ewigkeit, kommt als Namenlose aus Licht ans Licht. Hat Rat und Tat, Verstand und Macht (8,14). Wird erst übersetzt als Sophia Name. Doch verfehlt wäre es, unsere Grammatik, Sprache, Geschlecht, für göttlich zu halten. Es wäre der Versuch, in einen unbetretbaren Raum einzutreten und dort das Sprachliche zu finden, dessen wir uns als unser eigenes Produkt bedienen.

Theosophen und Theosophinnen haben mit Begeisterung diese Stelle gelesen: Die universale Sophia ging mitten und quer durch die Natur, quer und mitten durch die Seelen, durch die Menschheit, egal welcher Couleur. Gottfried Arnold, der aus Annaberg stammende Quedlinburger, ist um 1700 noch weiter gegangen: Sophia war ihm – wie – eine vierte Person zur Dreieinigkeit, weibliche Seite Gottes, allen Menschen anerschaffen. Die verborgene Sophia ist ihm Anlass für die Hochachtung vor allem Wesen, weil sie in allem steckt. Und sie ist ihm Grund für kritische Distanz gegenüber allen, die vorgeben, Weisheit zu besitzen und dann sogar vorschreiben zu können. Wir singen nachher genau aus dieser Zeit ein eher unbekanntes Lied des Kabbalisten und Theosophen: Christian Knorr von Rosenroth, den man sonst vielleicht nur aus dem Gesangbuch über „Morgenglanz der Ewigkeit“ kennt.

In Zeiten, die besonders unweise vielleicht nur erscheinen, ist es ein schweres Geschäft, die laut rufende, gar schreiende Stimme der Weisheit herauszuhören, die wir als Sophia-Übersetzte lesen. Es ist in jederlei Hinsicht ein Zu-Mutung, die rüttelt, ermahnt, Vertrauen und Mut macht, eine Er-Mutigung, mit der die Jahreslosung noch einmal voll zur Geltung kommt: Prüfet alles und behaltet das Gute! In Zeiten der Torheit wird die Weisheit gesucht und gepriesen, und sie wird vermisst. Aber sprechen wir nicht davon, wer weise und unweise oder dumm ist, denn darüber reden alle. Ich spreche lieber von Verwirrern und wähle anstelle von Dummheit einmal das alte Wort Torheit. Denn die Unweisheit kommt ja überhaupt nicht dumm daher, sondern gibt sich schlau.

Lassen wir uns nicht von Empfindungen und Diagnosen leiten, die uns die großen Verwirrer, die Diaboloi, bescheren! Sie lenken uns ab von der Fühlbarkeit der Weisheit, die in allem liegt und alles durchzieht. Die Torheit scheint simpler, gröber, sinnlicher, auch verführerischer und listiger zu sein, sie wird mit den groben Sinnen wahrgenommen, nicht mit dem inneren Sinn. Doch wir haben die Fühlbarkeit der Weisheit zu preisen.

Wer die Höhe der Berge, die Tiefen des Wassers und die Stärke der Quellen als Weisheit erspürt und erkennt, wird an der närrischen Torheit und auch an der gewaltvollen Bosheit nicht verzweifeln und nicht verzagen.

Denn Weisheit Sophia wird eine Ermutigung sein – und wir werden Hochachtung haben vor ihrer Würde und ihrer Kraft – mit Hochachtung werden wir unsere Sinne öffnen, dass wir sie fühlen und erkennen können. Mit Hochachtung werden wir zuversichtlich sein. Sophia Weisheit ist mächtiger als die Verirrungen von ihr. Hochachtung vor der Welt öffnet für eine grenzenlose Bewunderung jedes Details, für die Faszination ihrer Struktur, für Welt und Mensch als Weisheitwunder und als lebendiger Organismus.

Verachtung von Weisheit ist da. Aber die Worte der Schrift sind scharf: Wer mich verfehlt, verletzt seine Seele, ruft Sophia Weisheit am Stadttor. Was gibt es größeren Schaden, den man sich selbst zufügen kann. Und wer mich hasst, liebt den Tod.

Eine klare und wahre Alternative. Wer die Weisheit liebt, liebt das Leben und wird es bewahren. Doch Vertrauen setzt hier einmal eine Entscheidung voraus, kein bloßes Hinnehmen, kein stoisches Ertragen, kein bleibendes Urgefühl, das wir unhinterfragt spüren. Wir setzen der Verachtung der Weisheit Hochachtung entgegen.

Sophia hat Anweisungen und Warnungen parat. Es ist auf sie zu hören, auf ihre Zucht. Nicht von ihr abzufallen heißt: nicht den Glauben an sie verlieren, auch dort, wo wir sie nicht bei uns vermuten. Dann machen wir uns klein und töricht und unweise, und Gott gleich mit, der uns in Weisheit gemacht hat und der uns mit seiner Weisheit durchwebt. Wer diesen Glauben verliert, schlägt die Weisheit in den Wind. Selbstzweifel sind die Assistenz der Weisheitssuche, aber nicht Verzweiflung und Aufgabe. Wir leisten Sophia Widerstand, wenn wir uns der Hoffnungslosigkeit und dem Unglauben an die Weisheit hingeben.

Doch Torheit wird von denen Besitz ergreifen, die Sophia unfühlbar machen. Wer sie fühlt, kann ihr folgen und sie gebrauchen.

Der richtige Gebrauch der Weisheit? Ist Teilhabe, Suche. Wer meint, Sophia zu besitzen, ist unweise. Sie war schon immer da und kann nicht besessen werden. Wer behauptet, die Weisheit der Welt durchdrungen zu haben, verdient unsere Kritik. Welterklärungen, Weltgeister, Absolutheiten, Vorsehung geraten zu Totalitäten, die die Stimme der Weisheit übertönen wollen und anderen Interessen folgen als der Weisheit. Denn dort wird sie fixiert und vereinnahmt, sie bekommt fremde Namen und falsche Richtungen.

Davor muss Sophia Weisheit sogar beschützt werden. So spricht sie im Text: der Mensch, der mir gehorcht, der wacht täglich an meiner Tür und hütet die Pfosten – damit sie nicht versperrt und behindert wird, so kann es weiter heißen, damit sie frei fließen kann. Weisheit muss vor Vereinnahmung und vor der List der Torheit beschützt werden, damit sie nicht fake wird und ein Opfer der eigentlichen Gottlosigkeit, die mit Vorsatz und Hochmut die Pforten der Weisheit verschließt, indem sie sich selbst weise nennt.

Doch ist Weisheit nicht eine vertrauensvolle, fröhliche Zurückhaltung und Dankbarkeit? Dass sie selbst alles durchzieht, auch uns, und dass wir an ihr teilhaben, ohne sie zu vereinnahmen? Eine Ermutigung, die Mut und Demut verbindet und uns eine heitere Gelassenheit beschert? Weisheit lächelt, Dummheit lacht, singt Wolf Biermann.

Der Gehorsam, den Sophia von uns verlangt, ist die Kehrseite des Hochmuts der Scheinweisheiten, die Unterwerfung fordern. Doch in Zeiten der Torheit können wir uns den Luxus der Hoffnungslosigkeit nicht leisten. Solcher Luxus steht der Pracht der Welt entgegen, die Gott mit Weisheit gemacht hat. Ein Recht auf Verzweiflung nehmen wir uns dort heraus, wo wir uns dem noch so starken grellen Glanz der Torheit unterwerfen. Wie sollen wir mit solcher Ignoranz alles prüfen und das Gute behalten?

Wie die Alchemisten haben wir das Gold aus den Kohleschlacken herauszufiltern, weil wir wissen, dass es darin ist - und überall. Denn alles ist zu prüfen. Sogar die Torheit brauchen wir, so sehr wir sie am liebsten los sein wollen. Überall sind die Spuren der namenlosen Chokhma-Sophia-Sapientia. Und ist es nicht so, dass uns erst die Dreistigkeit und Anmaßung der Torheit auf den Weg der Weisheit bringt?

Unsere Augen sind verschleiert, unsere Herzen verzagt. Und wir denken oft, wenn wir um uns blicken, dass wir gute Gründe dazu hätten. Wir dürfen Gott um den Weg der Weisheit bitten, die um uns ist und in uns. Alles zu prüfen. Und das Gute zu behalten.

Amen

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