Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

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Salzsäule (Gen 19,15-29)


Predigt von Christiana Steiner zum Universitätsgottesdienst am 15. Juni 2025


Liebe Gemeinde,

die Reaktion der kommunalen Koalition in Hanau auf die Vorwürfe Emis Gürbüzs, Mutter des beim rassistischen Anschlags 2020 ermordeten Sedat Gürbüz, gegen die Stadt Hanau könnte frecher nicht sein: Frau Gürbüz habe mit ihren Aussagen am 19. Februar […] die Gedenkveranstaltung missbraucht, um rückwärtsgewandt zu spalten und die schreckliche Tat zu instrumentalisieren. Sie solle vielmehr den Blick in die Zukunft richten und sich engagieren, damit Hass und Hetze keinen Platz hätten.1 Emis Gürbüz, die ihren Sohn bei diesem furchtbaren Angriff verloren hat, hatte der Stadt vorgeworfen, Warnungen im Vorfeld des rassistischen Anschlags ignoriert und Sicherheitsvorschriften nicht eingehalten zu haben. Zudem gebe es bisher kein Mahnmal, das an den Anschlag erinnert. Nachdem Emis Gürbüz diese Vorwürfe bei der Gedenkfeier in diesem Jahr zu einer Rede vor Politiker:innen vorgetragen hatte, verkündeten diese wie zur Strafe: zukünftig „derlei Gedenkveranstaltungen“ nicht mehr abzuhalten.

Den Blick in die Zukunft zu richten und unangenehme Themen lieber ausblenden – ist das alles, was zum Umgang mit und Aufarbeitung von schrecklichen Ereignissen zu sagen ist?

„Als sich aber seine Frau hinter ihm umblickte, wurde sie zu einer Salzsäule.“

Der heutige Predigttext ist Teil der Erzählung zu Abram, Lot, Sodom und Gomorra. Abram und Lot hatten beide zusammen keinen Platz in Kanaan und so zog Lot Richtung Jordan, zu den Städten Sodom und Gomorra. Über die Bewohner:innen dieser beiden Städte wird von Anfang an nichts Gutes gesagt: „sie waren böse und sündigten sehr.“

Während Abram mit Sara in Kanaan bleibt und die Frage der Nachkommenschaft immer drängender wird, lebt Lot mit seiner Frau in Sodom. Seine Frau – in einigen Midraschim Idit genannt – bekommt gemeinsam mit Lot zwei Töchter. Abraham bekommt Besuch von zwei Männern, zwei Engel, die ihm Nachkommenschaft versprechen. Sarah kann da nur lachen. Der Besuch der beiden Gäste Abrahams und Sarahs endet damit, dass die Engel Richtung Sodom aufbrechen wollen. Gott bespricht seinen Plan zur Vernichtung Sodoms mit Abraham und Abraham verhandelt, dass Gott die Stadt verschont, wenn sich nur 10 Gerechte darin fänden – wohl wissend, dass sein Neffe Lot mit seiner Familie in Sodom wohnt.

Die beiden Männer bzw. Engel kommen also nach dem Besuch bei Abraham und Sarah zu Lot, seiner Frau und deren beiden Töchter. Lot lud die beiden Engel vehement zu sich nach Hause ein. Sie willigten schließlich ein und aßen bei Lot und seiner Familie zu Abend.

Bald schon umzingelte ein Mob aus Sodom das Haus und forderte die Herausgabe der beiden Männer. Sexuelle Gewaltandrohung klingt zwischen den Zeilen der skandierten Rufe des Mobs durch. Lot wagt sich hinaus vor das Haus und will verhandeln. Als Verhandlungsmasse bietet er seine beiden Töchter an. Diese sind noch unverheiratet, aber bereits verlobt. Doch lieber will Lot seine Töchter vergewaltigen lassen, als die beiden männlichen, göttlichen Gäste dem Mob herauszugeben. Gastfreundschaft auf Kosten minderjähriger Frauen.

Der Mob will nicht verhandeln, sondern Lot zusetzen, bezeichnen ihn als Fremden. Er maße sich zu viel an: „Du willst dich als Richter aufspielen?“ Sie sind schon dabei Lot zu verprügeln und die Tür aufzubrechen, als die beiden Boten Gottes die Tür öffnen und ihn schnell ins Haus ziehen. Sie fordern Lot auf mit allen, die zu ihm gehören aus der Stadt zu fliehen. Lot zögert, doch die Engel nehmen ihn, seine Frau und die beiden Töchter bei der Hand und ziehen sie raus aus der Stadt. Die Schwiegersöhne bleiben zurück – sie nehmen Lot nicht ernst.

Was ging während dieser Ereignisse in Lots Frau vor sich? Beinahe wären ihre Töchter vergewaltigt worden, sie musste alles Hab und Gut hinter sich lassen, fliehen aus einer Stadt, in der sie vielleicht schon viel Diskriminierung, Erniedrigung, Demütigung erfahren hatte – schließlich galten sie ja als „Fremde“. Sie hatten versucht dazuzugehören, hatten sogar Schwiegersöhne für ihre Töchter gefunden – die Eintrittskarte in die Mehrheitsgesellschaft Sodoms? Und zugleich hatten sie ihren Glauben, den sie weitergeben wollten. Den ihre Töchter an ihre Kinder weitergeben sollten und der sich von der sodomitischen Bevölkerung wohl unterschied. Anpassungsleistungen ohne Ende also und immer wieder die Ungewissheit: gehöre ich dazu? Wird mein Nachbar mich morgen noch grüßen oder die Straßenseite wechseln?

Und nun noch das Erlebnis eines gewalttätigen Mobs, der das eigene Haus umzingelt. Ein Ehemann, der in seiner Verzweiflung wirklich glaubt, mit diesen gewaltbereiten Leuten verhandeln zu können und dann seine Töchter anbietet! So schnell werden Menschen, eigene Schutzbefohlene zu Objekten, die man anpreisen kann.

Bei der Aufarbeitung traumatischer Ereignisse gibt es verschiedene Phasen - das Funktionieren solange mensch nicht sicher ist, dann das Gewahrwerden dessen, was geschehen ist, der Schock, die Trauer und dann die mühsame Aufarbeitung – oder mensch bleibt in der Verdrängung.

Zu Lot und seiner Familie wurde durch die Engel gesagt: Dreht euch nicht um! Die Engel wollen die Familie retten aus diesem schrecklichen Ort, neue Perspektiven eröffnen. Doch dafür müssen sie da erstmal weg. Die völlig unklare Zukunft und das erlittene Trauma lähmen die Familie, doch die Engel sind zur Stelle und holen sie aus Sodom raus.

Sobald sie in Sicherheit sind, dreht sich Lots Frau um. Sie konfrontiert sich mit dem, was passiert ist. Auch mit dem, was ihr Ehemann bereit war, ihren Töchtern anzutun. Vielleicht kommt ihr auch die Frage: wenn diese Engel nicht gekommen wären, dann hätten wir weiter unser Leben leben können. Dann wäre es vielleicht nicht zu diesem Drama gekommen. Sie dreht sich um, gemahnt die Ihrigen und die Nachwelt, die Spuren wahrzunehmen, die die traumatische Vergangenheit hinterlässt – in unseren Körpern und Seelen. Lots Frau wird selbst zur Spur. Sie zeigt auf das, was gerne schnell vergessen wird: die Gewalt an Fremden, an Minderjährigen, an Frauen und Männern. Das Salz ihrer Tränen wird zu einer Säule, die ans Trauern erinnert. Die daran erinnert, Leid aufzuarbeiten – als Individuen, Familie und Gesellschaft. Nicht zu vergessen, welchen Preis wir manchmal bereit sind zu zahlen, um gewaltbereite, aggressive, mächtige Feinde zu beschwichtigen. Wen wir bereit sind zu opfern, um des vermeintlich lieben Friedens willen.

Lots Frau wird zur Salzsäule, Lot vergewaltigt betrunken seine Töchter – von konsensuellem Sex kann in der Höhle, in der Lot und seine Töchter Zuflucht finden wohl kaum die Rede sein.

Das Buch Genesis erzählt hier eine gewaltvolle Geschichte, eine Geschichte, die ein traumatisches Geschehen nicht verleugnet. Eine Geschichte von einer Salzsäule, die uns gemahnt hinzuschauen, nicht zu vergessen, kritisch zu bleiben mit einem vermeintlichen Frieden und die Geschichten von denen zu erzählen, die Leid erlitten haben und sie selbst vielleicht nicht mehr erzählen können.

Erinnern heißt verändern – so das Motto der Initiative, die sich nach der Tat von Hanau gegründet hat. Gar nicht rückwärtsgewandt, sondern kritisch gegenüber vorschnellem staatlichem Versöhnungsimpuls. Statt einen Punkt hinter die Geschichte zu setzen: lieber ein Fragezeichen: Was muss sich verändern, damit eine rassistische Tat wie die von Hanau nicht mehr passiert? Was muss sich verändern, damit sich gewaltbereite Mobs nicht um Häuser mit „Fremden“ versammeln? Die Salzsäule weist uns den Weg.  Amen.

1 https://www.hessenschau.de/politik/empoerung-ueber-angehoerige-hanauer-koalition-will-gedenken-an-terroropfer-kuenftig-begrenzen-v2,hanau-politik-guerbuez-100.html    [zuletzt aufgerufen am 20.06.2025]

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