Liebling (Joh 13, 21-30)
Predigt von Thomas Dammann zum Universitätsgottesdienst am 13. April 2025
Wir sind mit im Abendmahlssaal. Zwölf sind da. Und Jesus. Einer ist in Wahrheit schon weit weg. Was ist mit den anderen? Ratlosigkeit. Zerrissenheit. Angst.
Jesus ist, so haben wir es gerade gehört, innerlich aufgewühlt, dass einer ihn verraten wird. Hatte er nicht mitbekommen, dass sich die Schlinge zugezogen hat?
Ich wäre so gerne dabei gewesen. Diese Spannung. Diese Dichte. Nachher, nach dem Essen, wird es Schlag auf Schlag gehen.
Und es hatte sich ja auch abgezeichnet. Der Einzug. Nein, nicht nur der. Die Sache damals im Tempel, noch davor. Da konnte man schon ahnen, dass das nicht gut ausgehen wird. Die Geldwechsler waren wirklich nicht erbaut. Ihr Geschäft vermiest. Randale im vorderen Tempelbezirk. Noch nicht drin im Tempel. Das sollte erst später kommen. Der Vorhang noch nicht zerrissen. Vielleicht schon ein kleiner Riss, der sich andeutet.
Triumphal der Einzug in Jerusalem. Man könnte meinen, die ganze Stadt sei auf den Beinen. Aufgebracht die Stimmung. Das große Fest. Die Vorbereitungen darauf. War es schwierig, da noch einen Raum für das Mahl zu bekommen in dieser vollen Stadt?
„Der Herr braucht ihn." Den Esel, aber auch den Raum.
Ein Kapitel vorher bei Johannes. Auch ein Mahl. Marta bedient. Maria salbt Jesus die Füße. Und der, der ihn ausliefert, er prangert die Verschwendung des kostbaren Salböls an. Dreihundert Silberlinge! Was hätte ein Armer, eine Arme damit anfangen können. Die Anzahlung zur Bestattung. Für den zehnten Teil davon wird Judas zum Auslieferer.
Und dann später im Saal, beim Mahl. Das ist heute. Judas hört etwas von „Vollendung" und „aus Liebe zu den Meinen".
Und für ihn mag das alles irgendwie abgedroschen klingen. Leer. Wie leer das ist, das möchte er Jesus so gerne sagen. Und er möchte vielleicht von ihm hören: „Dann kann ich ja jetzt zeigen, was in mir steckt. Die ganze göttliche Kraft. Dann kann das alles Wirklichkeit werden, was ich verkündet habe.
Amos Oz lässt Judas in seinem Buch „Judas" von 2014 dazu selber sprechen:
„Ich habe ihn ermordet. Er wollte nicht nach Jerusalem und ich habe ihn fast gegen seinen Willen gedrängt, dorthin zu gehen. Wochenlang habe ich auf ihn eingeredet. Er war voller Zweifel und Angst, wieder und wieder fragte er mich und auch die anderen Jünger, ob er wirklich der Mensch sei? [...] Und ich, der ich älter war als er, ruhiger und welterfahrener [...], ich wiederholte immer die Worte: Du bist der Mensch. Und du weißt, dass du der Mensch bist. Und wir alle wissen, dass du der Mensch bist. Und ich sagte jeden Morgen und jeden Abend, wie wichtig Jerusalem sei, dass wir nach Jerusalem gehen müssten. Ich habe viel mehr an ihn geglaubt als er an sich selbst. Ich habe ihn dazu getrieben, einen neuen Himmel und eine neue Erde zu versprechen. Ein Königreich, nicht von dieser Welt. Die Erlösung. Die Unsterblichkeit. Er wollte nur weiter im Land herumziehen, Kranke heilen, Hungrige sättigen und Liebe und Erbarmen in die Herzen pflanzen. Nicht mehr. [...] Ich liebte ihn als Gott. [...] Ich war überzeugt, dass sich heute in Jerusalem das größte Wunder von allen ereignen würde. Das letzte Wunder, nach dem es auf der Welt keinen Tod mehr geben würde. Das Wunder, nach dem kein einziges Wunder mehr nötig wäre. Das Wunder, das das himmlische Königreich bringen würde, sodass es auf der Welt nur noch Liebe gäbe."1
Und Petrus als zweite Person in der biblischen Erzählung? Wir ahnen, was in ihm vorgeht. Und genauso wie Judas wird er sich später wegstehlen. „Ich kenne ihn nicht." Nie gesehen. Nie von ihm gehört. Galiläer wie ich, ja gut, aber was heißt das schon?
Und er fragt beim Mahl nicht selber, als es darum geht, wer Jesus denn schließlich ausliefert. Er nickt dem Liebling zu. Der Liebling soll das für ihn erledigen.
„Sodass es auf der Welt nur noch Liebe gäbe."
Der Liebling im Johannesevangelium. Die dritte Person in der biblischen Erzählung. Es gibt ihn nur dort. Der Jünger an Jesu Seite. Er ist der Platzhalter für die Liebe. Immer ist er ganz nah dran an Jesus. Beim Mahl am Schoß Jesu, an seiner Brust, seinem Herzen. War es „der andere Jünger", der später im Hof des Hohen-priesters Petrus vor der Tür wegholt, damit er Stellung beziehen kann vor der Magd am Feuer? Obwohl Petrus, engster Freund von Jesus, später trotzdem noch eine Größe in der Gemeinde wird.
Der andere. Der Liebling. Erst beim Abschiedsmahl wird er auftauchen. Aber auch im Tod noch dabei. Das ist der Platz für die Vertrauten, die wirklich Nahestehenden. Die wirklich engen Freunde. Unter dem Kreuz. Auch später in der Grabhöhle. Der Liebling. In der Ostererzählung ist er es, der Jünger, den Jesus liebte (oder der Jesus liebte?) sozusagen in Konkurrenz zu Petrus als erster das leere Grab erreicht, ihm den Vortritt lässt, und dann derjenige ist, der den tieferen Sinn des leeren Grabes auch als erster versteht, und wir lesen dann von ihm, dass er sah und glaubte. Sehen und glauben aber kann tatsächlich nur „der geliebte Jünger". Aber was glaubt er? Darauf wird nicht eingegangen. Es gibt nur den Hinweis, dass er, der Jesus besonders nahe steht, den Schriftbeweis nicht braucht. Acht Tage später wird Jesus zu Thomas, der Jesus real sehen und berühren will, sagen, dass die selig sind, „die nicht sehen und doch glauben".2
Thomas Söding hat in seiner Vorlesung zur Passionsgeschichte im WS 2014/15 an der Uni Bochum in diesem Zusammenhang auch auf den Liebling aufmerksam gemacht. Für ihn ist er eher einer der Jerusalemer Jünger, eher nicht aus dem Zwölferkreis, der die fundierten geographischen, juristischen und historischen Details der Passionsgeschichte besonders plausibel erscheinen lässt, auch wenn ihn dann die Tradition mit dem Jünger Johannes gleichgesetzt hat.3
Das dachten doch vermutlich die meisten von uns. Ich auch, bis ich mich in der Vorbereitung auf diese Predigt mal ganz bewusst damit beschäftigt habe.
Ja, er trägt keinen Namen, der Liebling. Ist er der Platz an Jesu Seite für uns selber? Die geliebte Jüngerin? Der geliebte Jünger? So wie in der Lukas-Tradition der zweite Jünger auf dem Weg nach Emmaus, der auch keinen Namen trägt?
Bei einer Generalaudienz am 5. Juli 2006 hatte der damalige Papst Benedikt XVI den Lieblingsjünger ins Zentrum seiner Ansprache gestellt und gesagt: "Der Herr will aus jedem von uns einen Jünger (und ich ergänze: eine Jüngerin) machen, der in persönlicher Freundschaft mit ihm lebt", so Benedikt XVI. "Um das zu verwirklichen, reicht es nicht, ihm äußerlich zu folgen und zuzuhören; man muss auch mit ihm und wie er leben. Das ist nur im Kontext einer sehr vertrauten Beziehung möglich, die von der Wärme eines vollkommenen Vertrauens beseelt wird."4
Ist es das, worauf „der geliebte Jünger" uns aufmerksam machen möchte? Jüngerin – Jünger sein. Nachfolge leben als Vertraute, als Vertrauter von Jesus. Prototyp einer Jesus-Jüngerin, eines Jesu-Jüngers: Eine Person, die in persönlicher Freundschaft mit ihm lebt und sich bedingungslos von Jesus geliebt weiß.
Ja, und so kann und so sollte jede und jeder zur „geliebten Jüngerin" zum „geliebten Jünger" werden. Auch und gerade wir, die wir in unserem Glauben auf die Zeugnisse derer angewiesen sind, die Jesus nach seiner Auferstehung gesehen und ihn bezeugt haben.
Da dürfen wir uns an den „geliebten Jünger" halten. Vielleicht hat er schon im Abendmahlssaal an der Seite von Jesus etwas von einer noch verborgenen und noch nicht sichtbaren Welt gesehen, etwas geahnt und gespürt, was sich den anderen im Abendmahlssaal noch nicht erschlossen hat. Denn der „geliebte Jünger", er hat einen anderen, einen ganz eigenen Blick auf Jesus.
Die Liebe ist eine wichtige Botschaft des Christentums. Und dennoch sehen wir Bilder wie das hier am Lesepult nur selten. Kirche hat sich oft anders dargestellt. Triumphierend. Siegend. Macht ausübend. Mich berührt dieses zärtliche Bild vom „geliebten Jünger". Die Liebe, sie übersteigt unseren Verstand. Und gerade in Zeiten wie diesen, wo Gewalt die eigentliche Melodie der Welt zu sein scheint, kann sie für uns so wertvoll werden.
„Und so schauen wir auf dich, Jesus" lese ich bei Henri Nouwen. „Du schaust mich mit unendlicher Zärtlichkeit an und sagst: „Ich will dich bei mir haben. Ich will dich voll und ganz an meinem Leben teilhaben lassen. Ich will, dass du mir so gehörst, wie ich meinem Vater gehöre. (...) Du stehst auf und lädst mich zu Tisch. Während wir essen, nimmst du Brot, sprichst den Segen, brichst das Brot und gibst es mir. Nimm und iss, sagst du, dies ist mein Leib, der für dich hingegeben wird. Dann nimmst du den Becher, und nach der Danksagung reichst du ihn mir und sagst: Das ist mein Blut, für dich vergossen. Da du weißt, dass deine Stunde gekommen ist, um aus dieser Welt zum Vater hinüberzugehen. Und da du mich liebst, so liebst du mich jetzt bis zur Vollendung. Du gibst mir alles, was du hast und bist."5
Gleich, wenn wir selbst Abendmahl feiern, sind wir eingeladen, diesen eigenen Blick, die persönliche Freundschaft, diese Liebe von Jesus zu leben und zu kosten. Das Brot, der Wein. Zeichen bedingungsloser Liebe. Damals im Abendmahlssaal. Heute hier in der Kirche. Es ist derselbe Jesus, der sich verschenken wird. An uns geliebte Jüngerinnen und Jünger. Amen.
1 Mauz, A., n.d. Golgatha erzählen: Das Sterben Jesu von Nazareth zwischen neutestamentlicher Überlieferung und literarischer Moderne. Diegesis 7, 19–46
2 (vgl. Hecht, Anneliese in:https://www.bibelwerk.de/fileadmin/sonntagslesung/a_07_e_johannes_joh.20.pdf )
3 (vgl. Söding in https://www.kath.ruhr-uni-bochum.de/imperia/md/content/nt/nt/aktuellevorlesungen/vorlesungsskriptedownload/vlskriptews1415/skript_passionsgeschichte_ws_201415.pdf )
4 in: https://de.zenit.org/articles/papst-benedikt-xvi-begeben-wir-uns-in-die-schule-des-heiligen-apostels-johannes
5 Nouwen, Henri: Zeige mir den Weg. Freiburg. 1990, 132f