Liebeswasser (Joh 13,1-15)
Predigt von Studierendenpfarrer Dr. Conrad Krannich im Universitätsgottesdienst am 23. Juni 2023
Gründonnerstag auf der Reeperbahn. Freier und Huren mischen sich hier mit viel Partyvolk und mit den Originalen, die keiner so richtig einzusortieren weiß und die trotzdem dazugehören. Und mittendrin eine Geschichte, die ich Ihnen weitererzählen muss:
In dem Trubel Donnerstagabend auf der Reeperbahn ist auch eine Handvoll Pastor:innen zugange. Mit Talar, Beffchen und allem Drum und Dran. Stühle haben sie mitgebracht und Handtücher bereitgelegt. Einer aus der Pastor:innen-Riege steht im Burgerking schräg gegenüber in der Schlange: „[Bald] ist Ostern“, sagt er, als er dran ist, „und wir kommen von der Kirche. Heute ist Fußwaschung. Dafür bräuchten wir heißes Wasser.“ „Der Christ braucht Wasser!“, gibt ein Mitarbeiter nach hinten durch und reicht wenig später einen Eimer über den Tresen. „Achtung, […] heiliges Wasser!“, kommentiert ein Gast. Und dann geht es draußen los. Ungefähr vierzig Menschen nehmen an jenem Gründonnerstagabend Platz auf den Stühlen. Sie lassen sich die Füße waschen. [1]
Da gehört schon was dazu. Nicht nur aufseiten der Waschenden, sondern auch bei denen, die ihre Füße entblößen. Vor den Augen der anderen Schuhe und Strümpfe ausziehen, mich fußnackt dem Anblick der anderen aussetzen. Was werden sie sagen zu meinen verhornten Käsemauken?
Dafür gibt es doch Orte und Zeiten. Beim Arzt oder bei der Fußpflege. Aber doch nicht hier. Nicht mitten auf der Straße. Nicht einfach so. Warum eigentlich nicht?
Jesus war – wie so oft – sehr eindeutig, als er sagte: „14Wenn nun ich, euer Herr und Meister, euch die Füße gewaschen habe, so sollt auch ihr euch untereinander die Füße waschen. 15[E]in Beispiel habe ich euch gegeben, damit ihr tut, wie ich euch getan habe.“ (Johannes 13)
Ein Sakrament ist die Fußwaschung trotz dieser klaren Worte nie geworden. Vielleicht weil Fußwaschung eben kein Kinderspiel ist. Den Ritus knapp unter der Sakramentsschwelle haltend, haben dann aber doch viele im Namen Jesu einander die Füße gewaschen, erstaunlich viele: Die Zisterzienser taten das in ihren Klöstern jeden Samstagabend. In der römischen Kirche wurde die Fußwaschung 1956 noch einmal aufgewertet und ist seitdem in allen Kathedralen obligatorischer Bestandteil der Gründonnerstagsliturgie. Am Großen Donnerstag wäscht der griechische Patriarch von Jerusalem zwölf Priestern die Füße. Sein armenischer Kollege tut es ihm gleich. Zu den öffentlichkeitswirksames Zeichenhandlung von Papst Franziskus gehört es, dass er 2013 zwölf Gefangenen die Füße wusch. Aber auch Katharer, Waldenser und die Böhmischen Brüder, Sieben-Tags-Adventisten, Mennoniten und die Amische praktizieren die Fußwaschung. Kaiser Karl V. integrierte die Fußwaschung in das Hofzeremoniell. Es hielt sich bei den Habsburgern bis zum Ende der Monarchie 1918.
Päpste und Patriarchen, Kaiser und Könige sinken auf die Knie, Sie begeben sich erdwärts und gehen in Abstand zu den Höhen, in denen sie sonst wirken. Das ist ein starkes Zeichen für alle, auch für sie selbst.
Stellen Sie sich vor, zu Beginn der Legislatur waschen die Abgeordneten und Funktionsträger als allererstes einander die Füße. Zur Begrüßung der Neuen in den Hohen Häusern, als Geste des Respekts: voreinander, vor der gemeinsamen Aufgabe, vor der Macht.
Die Mächtigen per Fußwaschung daran zu erinnern, dass sie von Gottes Gnaden und durch Volkes Willen eingesetzt sind, um zu dienen, das kann funktionieren, muss es aber nicht.
Was validiert die in der Fußwaschung zur Schau gestellte Dienstwilligkeit?
Es war nicht Jesu erster, sondern der letzte Abend mit seinen Freunden. Ein letzter Abend mit allem, was dazugehört: mit großer Freude und bitteren Enttäuschungen. Während der Mahlzeit legt Jesus einen Schurz um und geht auf die Knie. Er wäscht seinen Freunden die Füße. „Das ist Sklavenarbeit. Wie tief kann man sinken“, ärgern sich manche. „Ich müsste Dir die Füße waschen, Du bist doch unser Meister“, wundert sich sogar Petrus. Aber Jesus sagt: „Nur wer die Füße gewaschen bekommt, wird ein Teil von mir.“
Es gehört was dazu, sich die Füße waschen zu lassen. Nicht nur aufseiten des Waschenden, sondern auch bei denen, die sie sich waschen lassen. Ich sehe, wie Jesus von unten in die Gesichter seiner Freunde blickt, in manche zum letzten Mal.
Es gibt nicht mehr viel zu sagen an jenem Abend im Angesicht des Todes. Aber zu tun. Spüren, was jetzt dran ist. Und dann tun. Sich ganz hineingeben. Und vertrauen, dass Gott da ist. In dieser Verletzlichkeit strahlt die andere Wirklichkeit besonders kräftig durch Jesus hindurch. Der Moment beginnt zu glänzen: So schön und einzigartig ist dieses Leben, so kostbar die gemeinsame Zeit und so zerbrechlich.
Im Fortgang der Fußwaschung wird Jesus sagen: „34Ein neues Gebot gebe ich euch, dass ihr euch untereinander liebt, wie ich euch geliebt habe, damit auch ihr einander liebhabt. 35Daran wird jedermann erkennen, dass ihr meine Jünger seid, wenn ihr Liebe untereinander habt.“
Mandatum ist deshalb in der lateinischen Kirche zum Synonym, zum Fachbegriff für den Ritus der Fußwaschung geworden. Mandatum – das heißt: Auftrag, Gebot. Es ist schwer, Liebe anzuordnen. Aber in Demut können wir uns üben. Sie kommt am ehesten an die Liebe heran, von der Jesus spricht.
„[D]ie Demut [lässt uns] uns Mitgefühl für die brüchigen und unverfügbaren Seiten des Lebens entwickeln […]“ (Annette Behnken)
Die Haltung der Demut verwandelt das Wasser, das den Fußrist hinabrinnt, in Liebeswasser.
Und die Fußwaschung wird zu mehr als einem öffentlichkeitswirksamen Akt, in dem es dann doch nur um meine Außenwirkung geht.
An jenem Gründonnerstagabend in Hamburg gerät auch ein älterer Herr an die Gruppe fußwaschender Pastor:innen auf der Reeperbahn. Bevor er sich setzt, fragt er: „‚Seid ihr von der katholischen Kirche?’ ,Nein, wir sind evangelische Pastorinnen und Pastoren‘, sagt eine Pastorin. ‚Ich muss euch sagen, ich bin ausgetreten’, sagt er. Stille. ‚Nicht wegen Missbrauch, sondern weil ich so viel gebetet habe und es hat nichts gebracht. Meine Frau ist vor einem Jahr gestorben.‘ [Sie] wäsch[t] schweigend weiter, versuch[t] seine Füße mit Öl zu streicheln und nicht nach passenden Worten zu suchen.“ Sie wäscht seine Füße. Und sie tut es ganz. Danach sagt sie: „‚Das hier heute ist für dich. Weil dir Gutes geschehen soll.‘“
Dir soll Gutes geschehen! Amen.
[1] Die am Anfang und Ende wiedergegebene Geschichte samt aller wörtlichen Zitate entstammt dem Bericht „Von Kopf bis Fuß auf Liebe eingestellt“ über die Fußwasch-Aktion der Hamburger Pop-up-Church zu Gründonnerstag 2022 [abgerufen am 20. Juni 2024 unter: https://www.kircheimdialog.de/projekte/pop-up-church/fusswaschung].