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Kommunismus (Apg 2,14-49)


Predigt von Universitätsprediger Prof. Dr.
Friedemann Stengel zum
Semestereröffnungsgottesdienst am 13. Oktober 2025


Liebe Leute, Brüder und Schwestern – Mitmenschen,

Gerechtigkeit! Ohne Ausrufezeichen scheint dieses für uns so zentrale Wort nicht auszukommen. Nur mit einem Punkt wäre Gerechtigkeit eine bloße Zustandsbeschreibung, wären wir vielleicht im Himmel, im Himmel auf Erden oder in einem Utopia angelangt. Solange wir Frage- und Ausrufezeichen mit Gerechtigkeit verbinden, schimmert sie zwischen Parole, Programm, Sehnsucht, Nachfrage. Gerechtigkeit ist Thema, klar: der Gerichte, in Wirtschaft und Politik, aber natürlich auch in Familien, Ehen und Partnerschaften. Für mehr Gerechtigkeit sind Aushandlungen nötig. Und Gerechtigkeit wird in hohem Maße empfunden, gefühlt, herbeigesehnt. Menschen schuften bis zum Umfallen und fühlen sich ungerecht entlohnt. Für Gerechtigkeit wird gekämpft. Gerechtigkeit muss heraus aus dem Sammelsurium unserer Gefühle und Wünsche, so sehr wir enttäuscht sind, wenn wir meinen, dass wir nicht genau das bekommen, was wir als unser Recht betrachten.

Und natürlich: wenn Gerechtigkeit ausbleibt, verschlägt es uns die Sprache und es schlägt uns aufs Gemüt. Gerechtigkeit, und vielleicht noch mehr: Ungerechtigkeit, ist nicht einfach nur eine Frage der Wahrnehmung. Sie wird himmelweit, nein: weltweit, erwartet oder gefürchtet. Die Blickrichtung geht oft zu denen, die schon viel haben und immer mehr bekommen, Macht und Eigentum. Sie geht nach meinem Gefühl immer weniger zu denen, die wenig oder nichts haben.

Gerechtigkeit betrifft die Verteilung dessen, was erworben wird, was im Umlauf ist, und sie betrifft dasjenige, was schon verteilt ist. Es geht um Gerechtigkeit der Chancen, der Ausgangsbedingungen. Und es geht um die Gerechtigkeit des Eigentums und des Erbes. Die Debatten gehen durch uns durch, kreuz und quer: Was macht man damit, dass die einen besitzen, was sie nie erworben haben? Und wie geht man damit um, dass manche gewaltiges Eigentum erwerben, andere aber weniger Glück, weniger Begabung, weniger Listigkeit haben? Oder sich zufrieden geben mit dem, was sie haben und ihnen zum Leben reicht?

Die einen werden in wohlhabenden Gegenden geboren, die es nicht nur im Norden und Westen gibt, und die anderen wachsen in Bescheidenheit, in Armut und in Not auf. Menschen gehen dorthin, wo sie mehr Gerechtigkeit erwarten und mehr Möglichkeiten, am Eigentum teilzuhaben. Das treibt sie zum Wandern, zur Flucht, aufs Meer, in den Tod, in die Hände vom Schmugglern und Schleusern. Migrationen waren schon immer normal und richtig und haben zu mehr globaler Verteilungsgerechtigkeit beigetragen.

Der Ort unserer Geburt und unseres Aufwachsens ist nicht unser Verdienst. Aber wir tragen Verantwortung, wie wir damit umgehen. Denken Sie an die fast 50 Jahre zurückliegende Botschaft von Erich Fromm: Haben oder Sein. Der Besitz versperrt uns den Blick auf unsere Mitmenschen und auf uns selbst. Wir sollen das Haben auch des Eigentums nicht als Mittelpunkt unserer Existenz betrachten, sondern zum wahren Sein gelangen – geschrieben in der seit den 1970er Jahren prognostizierten Umweltkrise und des bedrohten Überlebens der Menschheit. Und gerichtet an uns Einzelne, weil wir Einzelne selbst die Perspektive auf unser Leben ändern können.

Wir sprechen über Gerechtigkeit und Eigentum und haben dabei Materielles, Vererbbares im Blick. Wie gerecht und ungerecht wir mit unseren Gütern umgehen, das betrifft auch die Beziehungen unter uns.

Marx und Engels haben den Besitz an Gütern und den Ausbeutungsbesitz an Menschen im Manifest der Kommunistischen Partei genau aufeinander bezogen. Und sie haben ausdrücklich eine Unterstellung bestritten: Sie wollten einfach Eigentum abschaffen, Familie abschaffen, Ehe abschaffen durch Einführung der „Weibergemeinschaft“, wie es damals hieß. Sie haben dagegen gehalten: es gilt, dasjenige bürgerliche Privateigentum abschaffen, das auf Ausbeutung beruht, diejenige bürgerliche Familie und Ehe, die auf Ausbeutung der Kinder, Prostitution und Ungerechtigkeit gegenüber den Frauen beruht – das wollten sie abschaffen und so wehren sie sich gegen einen alten Vorwurf, der uns mitten hinein führt in das Jahr der Gerechtigkeyt 1525.

Da wurde er gegen die Täufer erhoben, die es seit Januar 1525 gab, und natürlich gegen Thomas Müntzer, gegen Bauernschaft und Bürgerschaft, die sich nicht etwa gegen die gesamte herrschende Ordnung erhoben und alles abschaffen und zerstören wollten. Sie wollten Gerechtigkeit und sie prangerten gezielte Rechtsbrüche durch die Mächtigen an: die Beschlagnahmung der Allmende: Wald, Wiese, Wasser, Wild und Fisch, das doch der gesamten Gemeinde gehörte, die Leibeigenschaft und Steuern und Abgaben, die nicht vereinbart waren. Sie forderten eine freie Predigt des frei machenden Evangeliums Gottes, der Guten Nachricht der Gleichheit aller, unabhängig von Geburt, Erbhof, Familienname. Weil jedes Kind, so heißt es in einem alten Weihnachtslied, „elend, nackt und bloß“ auf diese Welt Gottes kommt wie im Stall von Bethlehem der Herr Jesus, vor dem die Knie der Weisen und Könige sich beugen – und nicht umgekehrt. Für eine göttliche Ordnung waren Bäuerinnen und Bauern aufgestanden und auf die Straßen und Wege und vor die Schlösser gegangen, für eine Ordnung, die ursprünglich gut und gerecht, die gottgewollt und gottgemacht war.

Für manche von diesen Gerechtigkeitsdürstenden, für die Täufer, war das alles nur im kleinen Kreis der Freunde und Freundinnen möglich, die sich eine neue Lebensweise selbst und frei ausgewählt hatten. Für die anderen, Bauernschaft und Bürgerschaft, war es entscheidend, die Rechtsbrüche ungerechter Herrschaften öffentlich anzuklagen und Gerechtigkeit auch einzufordern. Unvorstellbar, himmelschreiend ungerecht und gegen Gottes gerechte Ordnung war es ihnen, dass jemand das alte Recht im großen Stile brach. Und so war es geschehen.

Und was warf man ihnen vor? Nicht nur die Gemeinschaft der Güter wollt ihr, auch die Gemeinschaft der Frauen und Kinder! Sittenlosigkeit und Anarchie – das habt ihr im Sinn; ihr gebt die Gerechtigkeit nur vor. Und als Müntzer in der Wasserburg Heldrungen gefoltert wurde, da wurde es protokolliert, dass sie die Gütergemeinschaft mit Gewalt durchsetzen wollten, als Zwangsenteignung. Und welcher Herr da nicht mitmachen wolle, dem hätten sie den Kopf abschlagen wollen. Kaum war Müntzer selbst geköpft, da ließen sie das böse Protokoll drucken, von dem wir nicht wissen, ob Müntzer es so gesagt hat, wie man es ihm „peinlich“, unter der Pein der Folter, angeblich abgepresst hatte.

Dass jedem alles gehöre – eine fromme Losung, eine biblische und sogar vorbiblische Vision – omnia sunt communia. Das ist durch die Propaganda nach dem Bauernkrieg zur Parole für die Zwangsenteignung geworden. Damit war eine Legende in der Welt, die die Brutalität begründen sollte, mit der man Bäuerinnen, Bauern, Knechte und Mägde, Bürgerinnen und Bürger hingeschlachtet hatte. Es war eine Legende, weil es den Bauern und Bürgern nicht um die Zwangsenteignun allen Eigentums ging. Denn das war noch nie mehrheitsfähig und ist immer nur von denen gefordert und praktiziert wurden, die das Ihre behielten. Die bäuerliche Gerechtigkeitsbewegung vor 500 Jahren wurde zur Eskalation eines gewalttätigen kommunistischen Mobs oder zum Vorboten einer kommunistischen Gesellschaft gemacht – einer Gesellschaft aber, die keine Vision geblieben ist, sondern als brutale Gewalt dann seit dem 20. Jahrhundert wirklich mit der Massenenteignung von Eigentum, von Leib und Leben einen großen Teil der Welt beherrscht und unterdrückt – und alle Freiheit beseitigt hat.

Das Jedem alles oder omnia sunt communia bleibt als alte Vision bestehen. Gerechtigkeit, Teilhabe aller an allem, quer durch unsere Gesellschaft, quer durch die Welt. Ist Gerechtigkeit eine fromme Illusion? In einer Welt der Milliardäre und Oligarchen? Wer will das? Aufgeben, teilen was man hat, in völliger Freiheit Sein statt Haben?

Ich will weder denen das Wort reden, die meinen, der Mensch sei in seiner Sündigkeit, Begrenztheit, angeborenen Habgier, in seiner Angst, zu verlieren oder loszulassen nicht in der Lage dazu. Ich will auch nicht in die sehr fundamentale Behauptung einstimmen, Besitz und der Besitzanspruch seien selbst etwas Sündiges. Manche Gemeinschaften quer durch die Religionen und Konfessionen, christliche, jüdische, muslimische, buddhistische, Freikirchen leben in Besitzlosigkeit und trainieren ein anspruchsarmes Leben durch tägliche Heiligung. Selig, wer das will und schafft, wer aufgibt, was er hat und in Klöster, Kommunen und Kibbuze geht, in denen Macht und Eigentum auf alle verteilt wird!

Das omnia sunt communia – die große Gerechtigkeitsformel – ist nicht vom Himmel gefallen. Sie stammt aus dem Neuen Testament, aus der Apostelgeschichte (2, 14-49). Es ist Pfingsten, am 50. Tag nach der Auferstehung Jesu, als der Heilige Geist in Jerusalem wie ein Brausen auf eine Menschenmenge aus aller Welt und in allen möglichen Sprachen herabkommt und diese Menschen wie in Entzückung verfallen und sich plötzlich allesamt verstehen, so dass die Leute denken: die sind allesamt betrunken am helllichten Tag. Da erhebt Petrus seine Stimme: Genau heute, geht in Erfüllung, was von alter Zeit her angekündigt worden ist. Dass Gott seinen Geist sendet, dass er Wunder tun will und dass es ein Tag der Errettung ist für euch alle. Dass Gott als Geist auf euch gekommen ist, das beweist es ja gerade, was keiner wahrhaben wollte: dass Jesus, den auch ihr ans Kreuz geschlagen habt, dass der nicht tot geblieben ist, sondern von Gott erweckt worden ist und dass Gott ihn zum Herrn und Christus gemacht hat. Das predigte Petrus.

Und als sie das hörten, da „ging es ihnen durchs Herz“. Und dann heißt es: es ließen sich dann etwa dreitausend Menschen taufen, die waren gläubig geworden, blieben beieinander und hatten alle Dinge gemeinsam: omnia communia (2,44; auch 4,32). Ja sie waren täglich „einmütig“ beieinander bei der Andacht, sie feierten Abendmahl und hielten die Mahlzeiten mit Freude und lauterem Herzen, so die Apostelgeschichte.

Liebe Leute! Gerechtigkeit als Effekt: Es ging den Leuten „durchs Herz“! Und dann handelten sie und teilten und jeder bekam, was er brauchte. Es ging den Leuten durchs Gemüt, heißt es, durch Worte und durch den Geist. Und dann folgt die Sinnesänderung der Gerechtigkeit.

Es ist übrigens kein aussschließlich christliches Thema, auch bei Griechen Platon gibt es das. Der breitet die Vision eines idealen Staatswesens aus: da besteht eine Gemeinschaft von Freunden und Freundinnen, die so lebt, weil auch ihnen etwas durchs „Herz“ ging, könnte man sagen: das Liebesband der Freundschaft, dass sie nicht nur das Eigentum an Gütern, sondern sogar Frauen und Kinder gemeinschaftlich haben oder erziehen werden. Hier redet der alte Grieche einem patriarchalen Bild bloß polyamoröser Männlichkeit das Wort – Frauen möchte er nicht die gleiche Freiheit zugestehen. Da kommt übrigens der alte Vorwurf her, der vor 500 Jahren auftaucht und dann im Kommunistischen Manifest wieder zitiert wird: Ihr, die ihr Gerechtigkeit wollt, wollt in Wirklichkeit nicht nur Gütergemeinschaft, sondern auch Kindergemeinschaft und Frauengemeinschaft. Die reale Urgemeinde nach der Predigt des Petrus kennt diese Frauen- und Kindergemeinschaft ausdrücklich nicht – aber eine rührende, herz-berührte Teilhabe.

Das ist ein Realbild, das es gibt und gab. Und es ist ein Idealbild, das nicht nur für Christinnen und Christen gilt, die sich vom Wort Gottes anstecken lassen. Lassen sie sich, lassen wir uns anstecken und es uns durchs Herz gehen lassen: die Predigt der Gerechtigkeit, Gottes alte Ordnung, die uns allen gilt, ob wir Gott nun als Urheber glauben oder nicht. Es ist eine ideale Ordnung der Gerechtigkeyt, die mit Freiheit verbunden ist, unserer eigenen Freiheit, in der wir unser Herz berühren lassen.

Aber nein: das Eigentumsgerechtigkeitsthema gehört nicht nur in den Privatbereich freiwilligen Verzichts. Und Gerechtigkeit betrifft auch nicht nur Eigentum. 500 Jahre danach ist und bleibt es Weltaufgabe, und das heißt immer auch: unsere, zwischen den extrem unterschiedlichen Eigentumsinteressen zu vermitteln, mehr Gerechtigkeit zu schaffen. Und dabei die Freiheit und Freiwilligkeit zu bewahren.

Uns selbst aber möge es durchs Herz gehen, wie wir mit dem Unseren umgehen, auch ohne den weisen und doch eigentlich heiteren Rat: das letzte Hemd hat keine Taschen.

Aber woran hängen wir unser Herz hier? Denn das, woran wir es hängen, das regiert uns, vielleicht sogar in Ewigkeit? Wollen wir das? Beherrscht uns unser Eigentum oder beherrschen wir es? Richten wir unsere Liebe auf den Besitz und auf uns selbst oder, wie es die Alten klar gemacht haben, auf Gott, über den wir nicht verfügen, und auf den Nächsten, der Gottes Kind ist wie wir?

Damit ein Stück weit der Himmel auf die Erde kommt. Amen

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