Kindsopfer (Ri 11,30-40)
Predigt von Prof. Dr. Jörg Ulrich zum Universitätsgottesdienst am 27. April 2025
Liebe Gemeinde,
es ist eine dunkle und ziemlich beklemmende Geschichte, die mir an diesem schönen sonnigen Frühlingsmorgen zum Predigen aufgetragen ist, die Geschichte von Jephta wie die Bibel sie erzählt im Buch der Richter. Anders als so viele andere Geschichten der Bibel zeigt sie uns keinen Gott, der rettet, hilft, bewahrt und schützt, sondern einen, der die Dinge in die Katastrophe laufen lässt und schweigt. Anders als in vielen anderen Texten der Bibel hören wir nicht davon, wie Menschen nach Gott fragen, ihm danken, zu ihm beten, zu ihm umkehren, sondern davon, wie der Kontakt zwischen Mensch und Gott plötzlich abreißt – mit schrecklichen Folgen. Die Jephtaerzählung ist wie ein Mahnmal, wie eine Warnung davor, dass die Dinge zwischen Gott und Mensch fürchterlich schief gehen können. Positives werden wir aus dieser Geschichte nur ziehen, wenn wir in Gottes Namen Einspruch erheben gegen den sinnlosen Opfertod einer jungen Frau aufgrund eines Gelübdes. Hoffnung werden wir angesichts dieser Geschichte nur schöpfen, wenn wir zuversichtlich glauben können, dass wir anders zu handeln imstande wären als Jephta. Ich will dazu drei Stationen in den Blick nehmen: den Handel, die Folgen und die Rettung.
Zuerst also der Handel. Der ist so ungewöhnlich nicht. Vermutlich hat der eine oder andere von uns es selbst schon mal erlebt, dass er in einer bedrohlichen Situation ein Stoßgebet gen Himmel geschickt hat: Wenn das und das morgen gut geht, dann mach ich dies und das, versprochen, hoch und heilig… Das gibt es schon, Gott etwas abringen, vielleicht auch in der Not diese oder jene Gegenleistung versprechen. Der jüdische Schriftsteller Franz Werfel ist mir da ein eindrucksvolles Beispiel, der in nationalsozialistischer Zeit auf der Flucht festsaß in Lourdes in den Pyrenäen. Vor dem Versuch, hinüber über die Grenze zu kommen und von da weiter in die USA, hat er der heiligen Bernadette das Gelübde geschworen, er werde ihr ein literarisches Denkmal setzen, wenn er heiler Haut entkäme. Und zwei Jahre später hat er in Kaliforniern eines seiner schönsten Bücher vollendet: Das Lied von Bernadette. Will sagen: Es spricht nichts dagegen, mit Gott zu reden, zu ringen und auch zu handeln. Es spricht nichts dagegen, als Gegenleistung für zuteil gewordene Rettung ein Buch über eine Heilige aus den Pyrenäen zu schreiben. Aber der Jephta des Richterbuches überschreitet mit seinem Gelübde eine Grenze. Er verspricht eine Gegenleistung, deren Folgen er nicht übersieht: Das erste, was aus der Tür meines Hauses kommt bei meiner Rückkehr, will ich dir, Gott, opfern zum Dank für den Sieg. Koste was wolle. Jephta nimmt zumindest in Kauf, was später schrecklicherweise passiert. Ich denke, es ist das, was man aus der Tragik dieser Geschichte lernen kann: Handel hin oder her, es darf nicht, es darf nie so weit gehen, dass ich Gottes Gesetz, dass ich Gottes Option für das Leben missachte. Man möchte ihn am liebsten direkt fragen, den Jephta der Bibel: Gibt es nicht auch Grenzen unserer Zusicherungen und unseres Tuns? Warum nicht dem Geist, der auf dich gekommen ist, wie es heißt, vertrauen? Liegt die Ursache für dein Gelübde etwa in dem Zweifel, ob Gott es gut meint mit dir? Oder lässt unser Denken in den Koordinaten von Geschäft und Gegengeschäft: Deal, wie man heute so sagt: Lässt all das zu wenig Raum für Vertrauen? Und wenn dem so ist: Was sind die Folgen?
Die Folgen sind entsetzlich und sie sind fatal. Das erste, was aus der Tür des Hauses kommt bei Jephtas Rückkehr, unkalkuliert, unerwartet, ist die eigene Tochter, sein einziges Kind, die ihm entgegenjubiliert mit Pauken und Reigen, um den Sieg ihres Vaters über die Feinde Israels zu feiern. Und nun steht es da, das Gelübde, und erweist sich als teuflischer Pakt. Den Sieg, der ihm alles bedeutet hat, hat der Herr ihm geschenkt, aber nun muss Jephta seinen Teil des Gelübdes erfüllen: Ich habe meinen Mund aufgetan vor dem Herrn und ich kann es nicht widerrufen, sagt er verzweifelt. Die Reaktion des Mädchens gespenstisch gefasst: Mein Vater, wenn du deinen Mund aufgetan hast vor dem Herrn, so tu mir, wie dein Mund geredet hat. Sie bittet noch um zwei Monate Gnadenfrist und als sie danach zu ihrem Vater zurückkehrt, bringt der sie dem Herrn tatsächlich als Brandopfer dar. Er tat ihr, wie er gelobt hatte, heißt es in der Bibel lapidar. Unglaublich. Unfassbar. Und wieder möchte man Jephta direkt fragen: Gab es da wirklich kein Zurück? Natürlich: Wer A sagt, muss auch B sagen, aber was, wenn ich unterwegs nach B merke, dass A falsch war? Was, wenn ich mit Gottes Hilfe begreife, dass, wenn schon A ein Fehler war, B ein noch größerer Fehler werden wird? Was man aus der tragischen Geschichte Jephtas und seiner Tochter lernen kann, ist, dass es notwendig, dass es elementar lebens-not-wendig ist, immer neu nach Gott zu fragen, immer neu das Gespräch mit ihm zu suchen. Um sich nicht zu verrennen. Um umkehren zu können. Irrwege korrigieren, von fatalen Entwicklungen ablassen, rechtzeitig. Wie viel Unglück hat sich in menschlichen Lebensgeschichten schon zugetragen, weil man meinte, nicht zurück zu können. Konnte man wirklich nicht? Wie viel menschliche, nein: unmenschliche Tragödien haben schon stattgefunden, weil man der Logik eines verhängnisvollen Ablaufs folgen zu müssen meinte. Musste man wirklich? Stopp sagen, innehalten, ablassen, das wäre ein Weg, mit dem man scheinbar unausweichliches Verhängnis heilsam wenden kann. Hast du gedacht, dass mit dem Gelübde das letzte Wort gesagt sei, Jephta? Und dass es sich nicht mehr lohne, mit Gott zu reden? Du hast dich doch ausgekannt in den Liedern Israels: Danket dem Herrn, denn er ist freundlich und seine Güte währet ewiglich. Gutes und Barmherzigkeit werden mir folgen mein Leben lang und ich werde bleiben im Hause des Herrn immerdar. So heißt es da doch. Ganz oft und immer wieder. Warum, in Gottes Namen, warum ist dir das, als es drauf ankam, nicht eingefallen?
Wo ist die Rettung? Wo ist die Bewahrung, wo ist, wenn Sie so wollen, das Evangelium in dieser beklemmenden Geschichte? Für Jephta und seine Tochter bleibt die Rettung aus. Die Geschichte endet in der Katastrophe. Und wenn wir, liebe Gemeinde, es nun nicht einfach dabei belassen, sondern zuversichtlich und fröhlichen Herzens in diesen Sonntag gehen wollen, dann werden wir den Blick von Jephta und seiner armen Tochter wegwenden und zuversichtlich-fragend auf uns selbst schauen müssen. Wenn wir es nicht bei der Katastrophe belassen, sondern fröhlichen Herzens in diesen Sonntag gehen wollen, dann müssen wir uns für uns selbst klar machen, dass es einen barmherzigen, einen gnädigen Gott gibt. Und uns fragen, ob und wie sehr wir diesem gnädigen Gott vertrauen. Oder anders gefragt: Könnten wir im Falle eines Falles zurück? Können wir, was Jephta nicht konnte?
Nun, in engerem Sinne ist die Antwort natürlich einfach und lautet Ja: Niemand von uns käme, Gelübde hin oder her, auf die wahnsinnige Idee, seine Tochter als Brandopfer darzubringen, das steht fest. Aber in weiterem Sinne: Können wir, was Jephta nicht konnte – einen Weg abbrechen, der in die Irre führt? Können wir das – einen Rückzieher machen? Können wir das – vor Gott innehalten, uns neu orientieren? Da bin ich mir auf einmal gar nicht mehr so sicher. Natürlich: Ich nehme schon für mich in Anspruch, nicht blindlings ins Verderben zu laufen, nicht einfach Dinge durchzuziehen ohne nach rechts oder links zu schauen. Aber ich kenne eben auch das andere, dass ich mich zu sehr auf mich und mein Tun fixiere, dass ich die Folgen nicht genug bedenke, dass ich meine, so und so handeln zu müssen und nicht anders zu können… Kann ich wirklich nicht?, dass ich meine, hierzu und dazu gezwungen zu sein… Bin ich das wirklich? Wer können will, was Jephta nicht konnte, liebe Gemeinde, der möge sich üben darin, sich der großartigen Freiheit zu vergewissern, die Gott uns jeden Tag schenkt. Wer können will, was Jephta nicht konnte, möge sich der Liebe Gottes vergewissern, die höher ist als all unsere manchmal so unbarmherzige Vernunft. Wer können will, was Jephta nicht konnte, übe sich im Gespräch mit Gott. Regelmäßig. Sich reglmäßig üben im Gespräch mit Gott. Unterschiedliche Menschen mögen da unterschiedliche Mittel und Wege haben. Ein paar Vorschläge gefällig? Meditieren etwa, wodurch ich Abstand gewinne von mir selbst. Beten zum Beispiel, wodurch ich mit Gott im Gespräch bleibe, mich an ihm orientiere. Still werden, wodurch Raum und Zeit entsteht zum Nachdenken; Bibellese, durch die mir die Treue Gottes zu seinen Menschen vor Augen tritt (es gibt da ja zum Glück auch andere Geschichten als die von Jephta). Sich austauschen mit anderen über die Dinge des Glaubens und über die großen und kleinen Fragen des Lebens und dabei neue, andere Gedanken hören; auf die Rettungen achten, die Gott uns in unserem Leben schon hat zuteil werden lassen, auch ohne Gelübde und Handel, und dankbar und zuversichtlich sein. Sich der Musik anvertrauen, die uns in so unvergleichlicher Weise herauszuheben vermag aus den Nöten des Lebens, ja, einem Gospelchor lauschen, sich hineinnehmen lassen in das Lob Gottes, das da so unmittelbar und ungebrochen und mitreißend erklingt. Mit fiele noch mehr ein, liebe Gemeinde, und Ihnen sicher auch, aber wir können hier auch ebenso gut innehalten, denn was immer Sie persönlich bevorzugen: Es ist alles besser als in der Fixierung auf mein eigenes Tun und Wollen den Kontakt zu Gott als erledigt zu betrachten und abreißen zu lassen.
Und so bleib am Ende dieser Predigt über eine dunkle und beklemmende Geschichte der Bibel dann doch und trotz allem die Hoffnung: die Hoffnung darauf, dass wir mit Gottes Hilfe können, was Jephta nicht konnte. Die Hoffnung darauf, dass es uns gelingt, zu vertrauen. Die Hoffnung darauf, dass uns der Gesprächsfaden mit Gott nicht abreißt. Die Hoffnung darauf, dass wir uns niemals einreden und uns von niemand einreden lassen, dass es keinen Ausweg mehr gäbe. Die Hoffnung darauf, dass wir uns nicht verstricken, verirren und verrennen in dieser oder jener Situation oder in unserem Leben insgesamt. Darauf merken, dass wir in Gott einen gnädigen Vater haben, dem wir am Herzen liegen, den wir anrufen, dem wir Fehler eingestehen, zu dem wir umkehren und von dem wir Rettung und viel Gutes erbitten und erwarten können heute und alle Tage. Was den Reichtum von Gottes gutem Willen mit uns angeht, kann man eigentlich nur sagen: Entdecke die Möglichkeiten. Je mehr dieser Möglichkeiten ich entdecke, desto mehr befreie ich mich aus den Irrungen und Wirrungen meines Lebens, desto mehr begebe ich mich auf die guten Wege, die der gnädige und barmherzige Gott mir weist. Amen.