Kämmerer (Apg 8,26-40)
Predigt von OKR Michael Lehmann zum Universitätsgottesdienst am 11. Mai 2025
Liebe Gemeinde,
bevor Sie den Eindruck gewinnen, dass ich entweder das Thema verfehle oder meine Predigt Sie, verehrte Adressat:innen dieser Predigt, verfehlt, lassen Sie mich bitte zuvor genau diese zwei Dinge ansprechen.
Erstens: Werde ich das Thema verfehlen? Unser Predigttext berichtet von der Taufe eines Menschen. Es ist aber nicht erste Aufgabe der Verkündigung, über andere Menschen zu reden – ach so, interessant, so etwas gibt es auch, hätt‘ ich gar nicht gedacht: Ein Finanzbeamter aus der Gegend des heutigen Sudan. Ein Eunuch, sagt die Schrift. Ein Gottesfürchtiger, sagt der Kirchenvater Irenäus. Der erste getaufte Heide, sagt der Kirchenvater Eusebius. – Eunuch, Sudan, Schatzmeister. Ein Fremder, ein Befremdlicher. Das, was wir über ihn wissen, ist schnell erzählt; es gibt noch mehr, aber das ist wohl alles Legende, erzählt zur Unterhaltung frommer Menschen. Nein, es ist nicht erste Aufgabe einer Predigt, über andere Menschen zu erzählen – Gottes Wort tratscht ja nicht, und dann soll das auch nicht die Predigt; vielmehr soll ja eine Predigt zu Ihnen sprechen, soll Sie erreichen. Der Erfolg meiner Predigt hinge dann wohl davon ab, dass es mir gelänge, das Thema zu verfehlen.
Aber seien Sie unbesorgt: Sie werden davon aber womöglich gar nichts merken, denn – zweitens – diese Geschichte von der Begegnung des Philippus mit dem Kämmerer aus Äthiopien wird womöglich auch Sie, liebe Gemeinde, verfehlen, denn:
Die ganze Apostelgeschichte berichtet von der Ausbreitung des Glaubens. Ich komme gerade von der Landessynode. Der große erste Teil des Berichts des Landesbischofs schwor die Synodalen auf schmerzhafte Einsparprozesse ein – angesichts rapide sinkender Gemeindegliederzahlen. Wir sind eine an Mitgliederzahlen kleiner werdende Kirche. Was will also diese Geschichte vom sich ausbreitenden Glauben uns sagen? Es ist das Problem des Neuen Testaments, dass es uns nichts über das Schrumpfen unserer Ressourcen, den Verlust an Relevanz, über Exnovation und Säkularisierung zu sagen weiß. Das alles ist dem Neuen Testament fremd; es beschreibt ja die Ausbreitung des Glaubens. Es ist unser Problem mit dem Neuen Testament, dass wir in unserer Situation keinen Anknüpfungspunkt finden. Oder findet die frohe Botschaft der Apostelgeschichte keinen Anknüpfungspunkt bei uns?
Ach, und noch eine schlechte Nachricht. Geben Sie einmal den Weg, den der Kämmerer genommen hat, von Jerusalem nach Gaza bei Google Maps ein: Es es gibt keinen Weg, nicht mit Auto, nicht mit öffentlichen Verkehrsmitteln, nicht zu Fuß. Wir wissen darum: Aus Jerusalem hörten wir unlängst: Wenn die Hamas nicht bald die Geiseln freilässt, werden die Tore Gazas geschlossen und die Tore zur Hölle geöffnet. Der Weg ist versperrt, wir kommen da nicht hin, wir können den Weg des Kämmerers nicht abschreiten, nicht nachvollziehen, nicht einmal digital. Die Tore Gazas sind geschlossen, die Tore zur Hölle offen. O Gott, was wollten wir dort suchen? Was würden wir dort finden außer Tod und Verderben? Ach herrje, das alles ist so deprimierend, eigentlich kann ich mich schon wieder hinsetzen.
Ich tu das nicht; unverzagt, vielleicht auch ein wenig trotzig möchte ich den Predigttext befragen, ob er der Kirche in diesem Land und in dieser Zeit, dem Landesbischof und der Landessynode, Ihnen und auch mir etwas zu sagen hat. Ich versuche mal eine Überschrift: Gelingensbedingungen für die Ausbreitung des Glaubens und ergänze: beschrieben für eine Kirche, die von sich glaubt, dass sie schrumpft.
Schauen wir zunächst auf Philippus, einen der sieben Diakone. Es sind, das hofft der Personaldezernent in mir, doch einige unter Ihnen, die in den kirchlichen Verkündigungsdienst streben? Merken Sie sich bitte den Philippus. Sie werden ihn brauchen für Ihr pastorales Berufsverständnis: Berufen wurde Philippus als einer der Diakone, die einen guten Ruf haben und voll Geistes und voll Wahrheit sind (Apg 6,3). Philippus lebt diese Berufung auch in der Folgezeit. Eine Berufung, die Ordination, ist kein Abschluss zweier Ausbildungsphasen, nichts Retrospektives, sondern etwas Prospektives, es kommt darauf an, den guten Ruf auch nach dem Ruf beizubehalten. Wie macht das Philippus? Predigend zieht er durch Samarien, und wo er auftritt, predigt und heilt, kam eine große Freude auf (Apg 8,8). Es ist also Ziel jedweder Berufung und auch das Ziel christlicher Verkündigung, Freude auszulösen. Na toll, und das angesichts unserer überaus heiteren Predigtkultur. Da kann ich mich doch schon zum zweiten Mal wieder hinsetzen, oder?
Zurück zum Thema: Gelingensbedingungen für die Ausbreitung des Glaubens, beschrieben für eine Kirche, die von sich glaubt, dass sie schrumpft. Sieben Gelingensbedingungen möchte ich vorstellen.
1.: 26Der Engel des Herrn redete zu Philippus und sprach: Steh auf und geh nach Süden auf die Straße, die von Jerusalem nach Gaza hinabführt und öde ist. 27Und er stand auf und ging hin.
Wer will, dass der Glaube sich ausbreitet, sollte sich auf den Weg machen, auch an Orte, die öde sind – Wüste, wie der Landweg zwischen Jerusalem und Gaza. So schön und wichtig es ist, dass wir unserer Kirchen tagsüber öffnen (ach, wäre das doch schon in unserer Kirche allgemeiner Brauch), so wichtig ist es auch, dass wir, und der Glaube mit uns, unsere kirchlichen Räume und Bubbles verlassen, dorthin gehen, wo es uns unbehaglich, fremd und öde ist.
Wann und auf welche Veranlassung wir das tun sollten? Nicht weil wir risikofreudig sind, nicht weil wir der Kirchen ehrwürdiger Nacht überdrüssig sind, nicht weil wir uns ansprechende neue Locations für eine Kirche an dritten Orten suchen, sondern weil ein Engel des Herrn zu uns spricht, und wir auf die Stimme der Engel des Herrn, die uns begegnen, achtgeben.
Aber dann: keine Angst vor unbekanntem Terrain.
2.: Und siehe, ein Mann aus Äthiopien, ein Kämmerer und Mächtiger am Hof der Kandake, der Königin von Äthiopien, ihr Schatzmeister, war nach Jerusalem gekommen, um anzubeten. 28Nun zog er wieder heim und saß auf seinem Wagen und las den Propheten Jesaja. 29Der Geist aber sprach zu Philippus: Geh hin und halte dich zu diesem Wagen!
Der namenlose Kämmerer ist, vorsichtig gesagt, nicht die Kernzielgruppe des Philippus.Ein hoher Finanzbeamter: Hatten Philippus und Petrus nicht eben noch Simon den Magier wegen seines finanziellen Angebots das Verderben an den Hals gewünscht? Hatte nicht eben noch Hananias und Saphira der Schlag getroffen? Interessant ist hier, dass Philippus auf den Kämmerer zugeht, ohne dass er Rücksicht nimmt auf Amt, Status und Wohlstand des Mannes. Das alles ignoriert Philippus. Er ignoriert aber noch mehr:
Ein Eunuch: Willkommenes Objekt für Getuschel hinter vorgehaltener Hand, versehrt, und darum keiner, der Aufnahme fand in der jüdischen Gemeinde. Philippus ignoriert auch dies. Hautfarbe, Muttersprache, kulturelle Identität – alles egal. Philippus geht unbefangen auf den Menschen zu.
Also: Haben auch Sie keine Angst vor fremden, womöglich gar befremdlichen Menschen.
3.: 30Da lief Philippus hin und hörte, dass er den Propheten Jesaja las.
Aber vielleicht sind auch wir nicht der Philippus in der Geschichte, sondern der Kämmerer? Dann hätte der Kämmerer nur deshalb keinen Namen, damit wir die Möglichkeit denken könnten, Ihr Name, mein Name sei der des Kämmerers? Und der namenlose Kämmerer hätte nicht nur einen Namen, sondern unzählige viele? Wir sind der Kämmerer, wir sind die Fremden, die Abgewiesenen, beschädigt an Leib oder Seele – was rät dann denn uns der Predigttext? Nehmen wir uns die Bibel aus dem Regal und lesen zweckfrei in ihr, und wer weiß, was wir da gerade zufällig aufschlagen; es könnte wie beim Kämmerer der Prophet Jesaja sein. προς πηγην οδος - ein evangelisches Urprinzip.
Lesen wir doch einfach öfter in der Bibel.
4.: 30Da lief Philippus hin und hörte, dass er den Propheten Jesaja las, und fragte: Verstehst du auch, was du liest? 31Er aber sprach: Wie kann ich, wenn mich nicht jemand anleitet? Und er bat Philippus, aufzusteigen und sich zu ihm zu setzen.
Das Verständnis der Schrift ergibt sich nicht unbedingt von selbst. Man muss, um das Gelesene zu verstehen, sich auch aufs Lesen verstehen. Wenn wir etwas für die Zukunft unserer Kirche tun wollen, dann könnten wir auch damit beginnen, die Lesekompetenz nachfolgender Generationen zu stärken. Denn in der Tiktok- und Instagram-Welt ist die Fähigkeit zu lesen nicht mehr selbstverständlich.
Was aber immer hilft, ist, über das Gelesene ins Gespräch zu kommen. Sprechen wir über das, was wir, die wir alle ohne Zweifel lesekundig sind, in der Bibel lesen.
5.: 32Die Stelle aber der Schrift, die er las, war diese Jes 53,7-8: »Wie ein Schaf, das zur Schlachtung geführt wird, und wie ein Lamm, das vor seinem Scherer verstummt, so tut er seinen Mund nicht auf. 33In seiner Erniedrigung wurde sein Urteil aufgehoben. Wer kann seine Nachkommen aufzählen? Denn sein Leben wird von der Erde weggenommen.« 34Da antwortete der Kämmerer dem Philippus und sprach: Ich bitte dich, von wem redet der Prophet das, von sich selber oder von jemand anderem?
Liebe Kämmerinnen und Kämmerer, es kommt nicht nur darauf an, Fragen an den Text zu stellen, es kommt auch darauf an, die richtigen Fragen an den Text zu stellen. (Und jetzt kommt eine kleine Werbung für das Theologiestudium.) Eine richtige Frage zu stellen benötigt Vorbildung und die Bereitschaft, sich auf den Text und seine Aussagen einzulassen.
6.: 35Philippus aber tat seinen Mund auf und fing mit diesem Schriftwort an und predigte ihm das Evangelium von Jesus.
Wir wechseln wieder die Perspektive und ringen gemeinsam mit Philippus um eine angemessene Antwort auf die kundige Frage des Kämmerers. Selbstredend, über den Glauben nachzudenken heißt auch, sich schwierigen Fragen auszusetzen. Das bedarf geduldigen Nachdenkens statt flotter Worte. Das braucht Ehrlichkeit statt Floskeln. Und es ist immer besser, anstatt zu argumentieren zu erzählen. Philippus agitiert und argumentiert nicht, er erzählt von Jesus Christus.
Hier ist die Stelle, an eine Frau zu erinnern, die ich verehre und von der ich viel gelernt habe. Sie hat in dieser Gemeinde als Katechetin gearbeitet: Frau Kreuter. Die Gabe von Frau Kreuter war die Kunst, Geschichten zu erzählen, die Kinder hingen an ihren Lippen, tauchten ein in die Welt und Zeit biblischer Geschichten, fieberten mit den Personen mit, neugierig warteten sie auf den Ausgang der Geschichte.
Es stünde auch heute unserer Kirche gut zu Gesicht, wir würden nicht nur auf das Argumentieren, sondern auch auf das Erzählen setzen. Die biblischen Geschichten haben ihre eigene Ausstrahlung und Aussagekraft. Sie sind ein kultureller Schatz, den unsere Gesellschaft braucht, sie sind Quellen, aus denen sich der Glaube speist, sie sind ein unaufdringlicher, aber auch unbestechlicher ethischer Kompass.
Lassen Sie uns mehr Frau Kreuter wagen. Erzählen wir den Menschen auf unserem Weg von Jesus Christus.
7.: 36Und als sie auf der Straße dahinfuhren, kamen sie an ein Wasser. Da sprach der Kämmerer: Siehe, da ist Wasser; was hindert’s, dass ich mich taufen lasse? 38Und er ließ den Wagen halten und beide stiegen in das Wasser hinab, Philippus und der Kämmerer, und er taufte ihn.
So schnell kann es gehen. So unkompliziert ist das.
Wenn von Gott erzählen heißt, dass durch uns auch Gott sich selbst mitteilt, dann heißt auch taufen, dass durch unser Handeln auch Gott selbst handelt. Wollten wir Gott im Wege stehen, wenn er sich mitteilen, wenn er handeln möchte?
Die Kasualordnung, die unsere Landessynode gestern verabschiedet hat, beschreibt auch die Taufe, übrigens ohne die Vorbedingung, dass die Eltern selbst Kirchenmitglied sein müssen. Noch steckt uns die Tradition in den Knochen, Kindern von ungetauften Eltern oder nach deren Kirchenaustritt die Taufe zu verweigern. Wir haben Kinder zu Objekten der Kirchenzucht gemacht, noch dazu einer Strafmaßnahme, die nicht sie, sondern ihre Eltern treffen sollte – und damit unseren eigenen Beitrag zum Schrumpfen unserer Kirche geleistet. Zugespitzt: Hätte Philippus den Kämmerer gefragt: Und, sind Deine Eltern in der Kirche? – wäre es nichts geworden mit der Ausbreitung des christlichen Glaubens. Die Taufe ist nicht ein Ritus für eine Schar der Treuen, sondern ein Gottesgeschenk an Menschen in aller Welt.
In der Taufe kommt diese Geschichte zu ihrem Ziel. In der Taufe kommt auch eine Kirche, die sich an der Ausbreitung des Glaubens freut, zu ihrem Ziel. In der Taufe wird der Mensch eine neue Kreatur (2 Kor 5,17): Das Alte vergeht, Neues wird – und mit ihm erneuert sich die Kirche, wird sie neu, kann sie wachsen. In der Taufe liegt die Kraft für die Ausbreitung des Glaubens, auch in einer Kirche, die von sich glaubt, dass sie schrumpft.
Sieben Gelingensbedingungen für die Ausbreitung des Glaubens, beschrieben für eine Kirche, die von sich glaubt, dass sie schrumpft. Diese Gelingensbedingungen brauchen den Philippus in Ihnen und mir, und auch einen Kämmerer, der Ihre Namen und auch meinen Namen trägt.
Der Rest sind Wunder Gottes: Dass Engel des Herrn unseren Weg kreuzen, mehr noch: unseren Weg säumen, dass sich in der Ödnis zwischen Jerusalem und Gaza ein Teich findet, dass Philippus am Ende der Geschichte entrückt wird – alles sind Wunder Gottes, Zeichen dafür, dass Gott auf wunderhafte Weise die Ausbreitung des Glaubens bereitet und unterstützt und garantiert.
Habe ich das Thema verfehlt? Vielleicht ja. Wissen über den Kämmerer, über das Königtum der Kandake, über das historische Äthiopien habe ich Ihnen heute nicht vermittelt. Aber eine Geschichte habe ich erzählt: von einem Menschen, von dem es am Ende der Geschichte heißt: Er zog aber seine Straße fröhlich. Und vielleicht habe ich ja nicht allein über einen anderen Menschen gesprochen, sondern auch zu Ihnen. So mögen auch Sie Ihre Straße fröhlich ziehen.
Und jetzt setze ich mich wirklich hin.
Und der Frede Gottes, welcher höher ist als alle Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.