Heilwasser (Joh 9,1-7)
Predigt von Prof. Dr. Annette Weissenrieder im Universitätsgottesdienst am 28. April 2024
Liebe Gemeinde,
Kennen Sie das auch: Sie sollen einen komplexen Text verstehen, aber die verschiedenen Ebenen verbergen sich hinter langen hochtrabenden Formulierungen oder die Argumentation will nicht ganz zusammenpassen. Komplexe neutestamentliche Texte schneide ich manchmal in kleine Textschnipsel, die ich dann für mich selbst oder auch gemeinsam mit Studierenden zusammensetze. Wie ist der Text eigentlich aufgebaut? Passen die Textteile zusammen? Gibt es Verse, die man neu lesen kann? Dieses Vorgehen verbindet mich mit keinem Geringeren als dem ehemaligen Präsidenten der Vereinigten Staaten, Thomas Jefferson.
Ich stelle mir vor, dass auch er eine solche Textübung gemacht hat. Mit einer Schere hat er sorgfältig die Texte aus dem Griechischen, Englischen und Französischen in einer Art Synopse nebeneinandergelegt und neu sortiert und geklebt. Herausgekommen ist ein Buch, die sogenannte Jefferson Bible. Zimperlich ist er nicht der Mann. Und er verfolgt in seiner Schnipselübung auch ganz konkrete Ziele. Wundergeschichten sind jedenfalls sein Ding nicht. Und Gefühlsregungen Jesu und Hinweise auf die Körperlichkeit Jesu, wie Speichel, Blut oder auch die von Jesus ausgehende Kraft auch nicht. Das Jüdische ist ihm ebenfalls fremd. Das Körperliche, das Wunderhafte, und das Jüdische, alles wird kurzerhand entsorgt. Sein Jesus ist wortgewaltig. Die Grenzen der Empathie, sie liegen hier allein im Wort Jesu. Die Geheilten sind nicht zentral.
Eine Textübung, die noch weiter geht, schlägt die kanadische Schriftstellerin und Theologin Sharon Betcher vor. Sie berichtet in ihrem bemerkenswerten Essayband „Disability and the Terror of the Miracle Tradition“ auf deutsch: „Körperbehinderung und das Grauen/ der Terror der Wundergeschichten“ über ihre Erfahrungen als Behinderte. Nach einer Routine-Operation ist sie an einem multiresistenten Erreger erkrankt, und ist zwar mit dem Leben davongekommen, aber hat ein Bein verloren. Sie berichtet von zahlreichen Begegnungen in kirchlichen Gemeinden, in denen Krankheit mit Sünde gleichgesetzt wird. Denn wenn das Leiden kommt, muss es natürlich erklärt werden. Sie fordert – besonders mit Blick auf die Deutung von Krankheit als Strafe Gottes – Heilungsgeschichten nicht mehr im Gottesdienst zu predigen. Den heutigen Predigttext findet sie in besonderer Weise inakzeptabel; sie spricht von einem „text of terror“, den man bestenfalls ignorieren, besser aber noch nicht mehr abdrucken sollte und sie fragt: Reflektiert dieser Text eine Grenze unserer Empathie? Oder weiter noch: Ist Gott oder ist Jesus vielleicht empathielos?
Ich lese zunächst den heutigen Predigttext Joh 9,1-7 in der Lutherübersetzung:
Und als Jesus vorüberging sah er einen Mann, blind von Geburt an. Und seine Jünger fragten ihn: Rabbi, wer hat denn gesündigt, dieser Mann oder seine Eltern, weil er doch blind geboren wurde? Und Jesus antwortete: Weder hat dieser gesündigt noch seine Eltern, sondern (er wurde blind geboren), damit die Werke Gottes an ihm offenbar werden sollten. Wir müssen die Werke dessen, der mich gesandt hat, wirken, solange es Tag ist. Denn es kommt die Nacht, in der keiner mehr wirken kann. Solange ich in der Welt bin, bin ich das Licht der Welt. Als er das gesagt hatte, spie er auf die Erde und machte einen Teig aus dem Speichel, strich ihm den Teig auf die Augen und sagte zu ihm: Geh hin und wasche dich im Teich des Siloah, das heißt übersetzt: Gesandter. Er ging hin, wusch sich und kam sehend zurück.
Die Geschichte berichtet von einem Mann, der blind von Geburt an war und den Jesus von seiner Blindheit heilt. Eigentlich klingt das nach einer guten Geschichte, nach einer Erfolgsgeschichte. Eigentlich. Irritierend sind freilich die Reaktionen, von denen die Geschichte berichtet. In mehreren Szenen, die sich über ein ganzes Kapitel erstrecken, werden diese ausgeführt. Seine Eltern reagieren verängstigt und die religiösen Führer erweisen sich als Anwälte des Gesetzes. Und die Jünger sind bemüht, das Geschehene zu erfassen. Der Evangelist versetzt uns hier absichtsvoll in die Welt rabbinischer Dispute und jüdischer Gelehrsamkeit. Die Eltern, wie die Schriftgelehrten und die Jünger ringen um das richtig oder falsch. Deshalb sprechen die Jünger Jesus als Rabbi an:
Sie fragen: Rabbi, wer hat denn gesündigt, dieser Mann oder seine Eltern, weil er doch blind geboren wurde?
Hat dieser Mann Gott beleidigt, als er noch im Mutterleib war? Hat Gott ihn dafür bestraft? Nein, sicher haben seine Eltern gesündigt.
Es muss einen Schuldigen geben.
Aber lassen Sie mich fragen: Klingt es für Sie nach Gott, wenn ein Kind erblindet, weil seine Eltern gesündigt haben? Nein, sicher nicht.
Wir stolpern vielleicht über die Art und Weise, wie die Jünger ihre Frage stellen, aber den Wunsch zu wissen, wem man die Schuld in die Schuhe schieben kann, den verstehen wir.
Wenn etwas schief geht, wollen wir wissen, wer schuld ist. Nehmen Sie die aktuelle Krise, und die führenden Politiker versprechen: „Wir werden der Sache auf den Grund gehen. Wir werden herausfinden, wer schuld ist“.
Manchmal ist das wichtig, um einen Fehler zu korrigieren oder das Morgen besser zu machen als das Gestern.
Aber nichts deutet darauf hin, dass die Jünger einen Fehler wieder gut machen wollen. Sie zeigen kein Interesse an dem ehemals Blinden. Sie zeigen keine Freude darüber, dass er wieder sehen kann, sie wollen nur wissen, wessen Schuld es ist, dass er überhaupt erkrankt ist. Die Erzählung legt nahe: Die Haltung der Jünger beschreibt vielleicht unsere eigene Haltung. Irgendetwas ist schiefgelaufen; wir brauchen jemanden, dem wir die Schuld geben können. Sind wir es, die wissen wollen, wer schuld ist? Sind wir es gar, die manchmal empathielos auf Menschen reagieren? Gerade auch wir Gläubigen?
Wenn wir einen Schuldigen finden, bestätigt das unser Bedürfnis, dass die Welt gerecht ist.
Das eben fragen die Jünger. Was ist der Grund für die Blindheit dieses Mannes? Es muss einen Grund geben. Wir sagen uns selbst, dass alles einen Grund hat.
Und Jesus antwortet in der Lutherfassung: „Weder hat dieser gesündigt noch seine Eltern, sondern (er wurde blind geboren), damit die Werke an ihm offenbar werden.“
Diese Antwort irritierte mich: Der Mensch ist blind, damit Gott später an ihm heilend wirken kann? Muss Gott tatsächlich an schuldlosen Menschen in dieser Weise agieren, um nach vielen Jahren des Leidens seine eigene Macht zu demonstrieren um durch Jesus heilend zu wirken?
Dieser Vers hat mich jedenfalls derart umgetrieben, dass ich mir einige Handschriften des griechischen und lateinischen Textes angeschaut habe. Und in der Tat legen die Handschriften die von den Bibelübersetzungen angebotenen Text nicht unbedingt nahe.
Hören wir nochmals die Übersetzung der Lutherbibel:
Und Jesus antwortete: Weder hat dieser gesündigt noch seine Eltern, sondern er wurde blind geboren, damit die Werke Gottes an ihm offenbar werden sollten.
Meine erste Feststellung ist fast schon banal: Die Information, „sondern er wurde blind geboren“ wird lediglich von modernen Übersetzern in den Text eingetragen. Die Ergänzung dient lediglich dem Textfluss eines rekonstruierten Textes. Sie findet sich in keiner Handschrift, gehört also nicht in den Text.
Die zweite Feststellung geht aber noch weiter und sie hat theologische Relevanz: Sie führt uns direkt ins Zentrum des christlichen Glaubens. Der Hintergrund dieser Feststellung ist, dass griechischen und lateinischen Handschriften in einer scriptio continua geschrieben sind, die keine Satzzeichen wie Punkt und Komma kennt und die auch zwischen den Wörtern keine Leerzeichen lässt. Auch kennen die frühen Handschriften keine Groß- und Kleinschreibung. Verse und Kapitel wurden wiederum noch später hinzugefügt. Somit können wir diesen Vers nochmals neu anschauen: Zunächst sagt der Text:
„Weder hat dieser gesündigt noch seine Eltern“. Wir können also danach einen Punkt setzen, denn damit wird die Frage seiner Jünger hinreichend beantwortet. Der nächste Halbvers (die Werke Gottes sollen an ihm offenbar werden), der mich in der Lutherübersetzung so irritierte, gehört schon zu einem anderen Thema, das Wirken Gottes in Licht und Finsternis.
„Weder hat dieser gesündigt noch seine Eltern“. Die Jüngerfrage setzt voraus, dass zwischen Krankheit und Sünden ein geheimnisvoller Konnex besteht. Das theoretisch unlösbare Dilemma entsteht daraus, dass in der Bibel auf der einen Seite diese Drohung steht. Gott werde die Sünden der Väter heimsuchen an den Kindern (Ex 20,5). Aber in der Bibel steht auch, dass sich gegen eine solche Art Sippenhaftung im Namen der Gerechtigkeit der berechtigte Protest der Propheten erhebt: „In jenen Tagen wird man nicht mehr sagen: Die Väter haben saure Trauben gegessen und den Kindern werden die Zähne stumpf“ (Jer 31,29). Explizit wird jedenfalls in unserem Text der mögliche Kausalzusammenhang zwischen Sünde und Krankheit bestritten.
Diese Einsicht hat in der Reformationszeit wieder Calvin zur Geltung gebracht. Die Genfer Kirchenordnung (von 1561) ordnet an, dass „für die Armen im Spital wie für die Bedürftigen in der Stadt ein Arzt und ein Wundarzt“ angestellt werden sollen. Dieses Interesse des Reformators an einer bestmöglichen Krankenbehandlung führt letztlich in Genf zur Gründung einer medizinischen Fakultät. Zum anderen sollen die Pfarrer sich in der Seelsorge insbesondere der Kranken annehmen, da diese „zuvörderst die Dienste unsers geistlichen Amtes beanspruchen“. Mit dieser Zuwendung zu den Kranken verändert sich auch ihre Wahrnehmung und Calvin scheint an dieser Stelle Joh 9 weiter zu schreiben: „Gott hat bisweilen nicht die Absicht, wenn er den Menschen Leid auferlegt, sie für ihre Sünden zu bestrafen. Wenn daher die Ursache der Leiden verborgen ist, müssen wir unsere Neugier zähmen, um nicht Gott Unrecht zu tun und gegen die Brüder lieblos zu sein.“ Was Calvin hier so eindrücklich vorbringt ist, dass jede Kranke, jeder Leidende eine Antwort von uns erwarten kann, die nicht lieblos ist.
Nach dem Theologen Karl Barth zeigen gerade die Heilungen Jesu, dass Gott ganz auf Seiten der Kranken und damit gegen die Krankheit steht, dass er kein Gott ist, der sich in der Krankheit als strafender Gott verhüllt. Wenn wir in Jesus Christus Gott selbst erkennen, dann verdeutlicht die Heilungspraxis Jesu: „Gott will das nicht, was den Menschen plagt, quält, stört und zerstört“. Die Gelehrten sprechen hier nicht von Grenzen unserer Empathie! Ganz im Gegenteil. Wenn ich die Texte richtig verstehe, sagt Jesus: Wenn Menschen leiden, kümmert euch nicht darum, wer daran schuld ist, sondern tut einfach das Gute, das ihr tun könnt. Antwortet, und die Macht Gottes wird sich erweisen. Wenn das Leiden kommt, und es kommt zu allen, gibt es wahrscheinlich keinen verstehbaren Grund, aber es gibt immer eine Antwort der Gnade, des Mitleids und der Barmherzigkeit. Wenn das Leiden kommt, ist die Antwort die liebende Zuwendung.
Als erstes Ergebnis unserer textkritischen Schnipselarbeit halten wir also fest: So verflochten der Mensch auch in Schuld und Sünde ist, so ist Jesus Christus im Kampf gegen die Krankheit eindeutig auf der Seite der Leidenden. Er fragt nicht nach Schuld. Er fragt nicht nach Status. Er lebt vor: Konfrontiert mit Krankheit und Leid kann unsere einzige Antwort sein: Zeigt Mitgefühl. Tut das Gute, das in eurer Macht steht. Urteilt nicht. Oder mit den Worten des Evangelisten Johannes zu sprechen: „Weder hat dieser gesündigt noch seine Eltern“.
Wir haben gehört: Gott wirkt im Mitgefühl. Die exegetische Schnipselarbeit hat ergeben, dass der Text noch einen weiteren Aspekt des Wirkens Gottes in der Welt kennt. Hören wir den Text also nochmals in meiner Übersetzung:
Aber damit die Werke Gottes an ihm offenbar werden, müssen wir die Werke dessen, der mich gesandt hat, wirken, solange es Tag ist. Denn es kommt die Nacht, in der keiner mehr wirken kann. Jedesmal (und nicht wie die Lutherbibel: solange) wenn wir (!) in der Welt sind, bin ich das Licht der Welt.
Für das Johannesevangelium erscheint in Jesus das Licht, das seit Ewigkeit vorhanden, aber nicht überall zugänglich war. In ihm wird es sichtbar. Ich veranschauliche das mit einem zugegebenermaßen banalen Bild: Auch an einem trüben Tag, wie in den letzten Wochen, sickert das Licht milchig und grau durch die Wolken. Trotzdem sagen wir: Die Sonne scheint nicht! Aber sie scheint. Ansonsten würden wir im Dunkeln und in der „Nacht“ sitzen. Wo die Wolkendecke aufreißt, wird die Sonne sichtbar. Was latent vorhanden war, wird manifest und strahlt dann um so mehr! So ähnlich meint das Johannesevangelium: Gott ist Licht. Es scheint überall. Aber es fällt uns schwer, es wahrzunehmen. Gleichsam ist es an einer Stelle sichtbar geworden, in Jesus. Christus ist Licht zum Anschauen: „Wir sahen seine Herrlichkeit.“ In Jesus Christus riss die Wolkendecke des Himmels auf. Das Licht Gottes wurde erfahrbar. In diesem Sinne nimmt unser Predigttext auf den Prolog Bezug, wo es heißt: „Und dieses Leben war das Licht für die Menschen“. Das entspricht nicht zufällig dem ersten Wort des Schöpfers in Gen 1 und seinem Tagewerk: und Gott schied zwischen dem Licht und der Finsternis“. Allein diese Scheidung macht die Finsternis erst sichtbar und wahrnehmbar.
Innerhalb des johanneischen Textes ist die Grenzaussage denkbar: „Ich bin das Licht der Welt! Wer mir nachfolgt, tappt nicht in der Finsternis umher, sondern wird das Licht des Lebens haben.“ Alle können dies Licht haben. Alle können von ihm leben. Allen Menschen leuchtet es, die in die Welt gekommen sind. Alle können daher den Sohn wahrnehmen – aber nicht allen muss das bewusst sein. In Christus ist Gott Mensch geworden, weil er in allen Menschen Mensch werden will. Und das eben hat Johannes uns aufgegeben: Wir sind Licht. Und nicht nur solange Jesus Christus in der Welt ist. Vielmehr wird er erfahrbar jedesmal wenn wir dieses Licht verkörpern. Auch wir können dem Licht zum Durchbruch verhelfen, nicht formalistisch, sondern der menschenfreundlichen Absicht des Geistes Rechnung tragen.
Als zweites Ergebnis unserer textkritischen Schnipselarbeit halten wir also fest: So verflochten der Mensch auch in Schuld und Sünde ist, so ist Jesus Christus das Licht der Welt, um uns eine Orientierung zu geben. Das geschieht nicht nur durch das Wort Jesu, will man Thomas Jefferson sagen. Sondern auch dadurch, dass durch uns Licht und Wärme entstehen kann. Oder mit den Worten des Evangelisten Johannes zu sprechen: Aber damit die Werke Gottes an ihm offenbar werden, müssen wir die Werke dessen, der mich gesandt hat, wirken, solange es Tag ist. Denn es kommt die Nacht, in der keiner mehr wirken kann. Jedesmal wenn wir in der Welt sind, bin ich das Licht der Welt.
Kommen wir zum dritten Aspekt unserer textkritischen Schnipselarbeit. Sie betrifft die Heilung des blinden Mannes durch das Aufstreichen eines Breis aus Speichel und Erde und die Waschung am Teich. Hören wir nun also den Schluss des Abschnitts, der in der Bibel des Thomas Jefferson fehlt:
Als er das gesagt hatte, spie er auf die Erde und machte einen Teig aus dem Speichel, strich ihm den Teig auf die Augen und sagte zu ihm: Geh hin und wasche dich im Teich des Siloah, das heißt übersetzt: Gesandter. Er ging hin, wusch sich und kam sehend zurück.
Und wieder ordnen wir diesen Textschnipsel zu. Und wir sind nun am Wasserbecken in Jerusalem angekommen, das der König von Juda namens Hiskia etwa 701 v.Chr. angelegt hatte. Dieses Wasserbecken wird durch einen unterirdischen Tunnel mit dem „lebendigen Wasser“ der Gihon-Quelle gespeist. Diejenigen, die Jerusalem und die Wasserbecken besucht haben, steht vielleicht noch vor Augen, wie sie durch das Tunnelsystem im Wasser gewatet sind, um sprichwörtlich die reinigende Macht der Quelle zu erfahren. Jüdische Quellen sprechen von einem „Brunnen lebendigen Wassers“ (Cant 4,15). Dieses Wasser diente vornehmlich kultischen Zwecken und wird auch im Tempel genutzt. Es gilt als besonders wertvoll. Es macht rein. Am Laubhüttenfest werden die täglichen Wasserspenden aus dieser Quelle entnommen.
Leserinnen und Lesern des Evangeliums ist die Rede vom „lebendigen Wassers“ vertraut. Der Evangelist hat es bei der Begegnung Jesu mit der Samaritanerin am Jakobsbrunnen eingeführt. Und innerhalb der Erzählung des Laubhüttenfestes in Joh 7 lässt er Jesus wiederaufnehmen: „Wen da dürstet, der komme zu mir, und er trinke, wer an mich glaubt. Wie die Schrift sagt: aus seinem Leibe werden Ströme des lebendigen Wassers fließen.“
In unserer Erzählung wird nun im Prozess des Gesundens Jesus nahezu mit dem lebendig-machenden Wasser identifiziert. Es ist eine traditionelle Ansicht in der Antike, dass der Speichel eines göttlichen Menschen als heilkräftig wirken konnte. Es ist Jesu Speichel, dem diese therapeutische Wirksamkeit nachgesagt wird. Durch das Auftragen der Salbe aus Erde und seinem Speichel kommt Jesus dem Kranken nahe. Er wirkt therapeutisch und dient ihm. Eine antike medizinische Deutung besagt, dass durch den Speichel die Kraft eines Menschen übertragen werden kann. Nicht zufällig fühlten sich die frühesten Ausleger an die Erschaffung des ersten Menschen aus Erde in Genesis 2 erinnert. Es ist Jesus, der Gesandte Gottes, den Kranken eine neue Perspektive, ein neues Leben schenkt. Und es ist jener Jesus, der Gesandte Gottes, der den Kranken an den Teich Siloah schickt, dessen wörtliche Übertragung „Gesandter“ ist. Damit gewinnt der therapeutische Akt Jesu, das Bestreichen der Augen mit der Mischung aus Erde und Spucke, eine doppelte symbolische Bedeutung: Der physischen Berührung mit der heilenden Erde und die physische Waschung im Wasser Siloahs geht mit der geistlichen durch den Glauben an den Gesandten Gottes einher.
Und wir? Welche Aufgabe kommt uns zu? Heilend agieren zu wollen, ist sicherlich eine Überforderung. Aber das ist sicherlich auch nicht gemeint. Schauen wir nochmals genau hin: Jesus spuckt und knetet. Er trägt den Brei auf die Augen und berührt den Mann. Es ist Jesus, der sich dem Blinden zuwendet, ihn berührt. Wir haben zuvor gehört, dass wir ebenfalls heilsam wirken können. Wir haben den Auftrag, Licht zu sein, als Gesandte des Gesandten zu wirken. Unsere Form, das heilsame Wirken erfahrbar zu machen kann sein, dass wir uns dem Leidenden zuwenden, ihn oder sie sehen. Ohne Vor-Urteil. In Zu-Wendung. Im Wort und Gebet. Mit einer Umarmung oder sanften Berührung. Wir können als Gesandte wirken und das lebendige Wasser und die Schöpferkraft Gottes erfahrbar machen und anderen zutrauen: auch Du bist gesandt!
Aber noch viel weitergehend ist doch eines: Jesus traut dem Blinden zu, selbst Gesandter zu werden. Er ist eben nicht auf die Krankheit reduziert. Das Gesunden ist ein Erleben der Schöpferkraft Gottes. Es ist eine Neuschöpfung, die uns ahnen lässt, was wir im Letztendlichen hoffen dürfen: heil zu werden, erfrischt und lebendig zu werden durch das Wasser, das unseren Durst nach Heil stillt und eben diese Erfahrung auch anderen zu ermöglichen.
Als drittes Ergebnis unserer textkritischen Schnipselarbeit halten wir also fest, dass wir die Schöpferkraft Gottes erleben und ermöglichen dürfen. Beten und Arbeiten wir für das Gesunden einer erblindenen Welt im Jetzt. In der Sprache des Joh heißt es: Geh hin und wasche dich im Teich des Siloah, das heißt übersetzt: Gesandter.
„Jesus, hat dieser Mann oder seine Eltern gesündigt?“ Nein.
Wenn Leid kommt, gibt es nicht immer einen Grund, aber es gibt immer eine Antwort. Insofern gehören Heilung und Lebensorientierung nicht nur im Urchristentum, sondern auch in der Gegenwart zusammen. Diese Antwort, so möchte ich Thomas Jefferson zurufen, finden wir nicht nur im heilsbringenden Wort Jesu, sondern auch in der Menschenfreundlichkeit, die ebenso eine heilsame Berührung meinen kann. So sagt Johannes: Jedesmal wenn wir in der Welt sind, bin ich das Licht der Welt.
Und Sharon Betcher möchte ich sagen: Diese Heilungsgeschichte erschließt sich nicht sofort. Ein „text of terror“ ist sie nicht. Ich möchte sie gern in meinem Repertoire behalten, denn sie fordert eines: Nicht die Grenzen der Empathie, sondern die Unbegrenztheit der Empathie Gottes wahrzunehmen.
Wenn also in dieser Woche das Leid kommt, lasst uns das Gute tun, das uns zusteht. So werden wir das Werk dessen tun, der uns gesandt hat.
Amen