Weiteres

Login für Redakteure

Gerechter Friede (Ps 85)


Predigt von Felix Stütz zum Universitätsgottesdienst am 14. Dezember 2025 in der Laurentiuskirche


Advent, Advent, ein Lichtlein brennt...

Geduckt halten sie inne, warten auf den Moment, zählen die Minuten. Der Atem stockt. Funken breiten sich über dem Himmel aus, eine rote Linie durchzieht das eisige Dunkel der Nacht. Es ist der Raketenschweif einer Iskander-M, die in wenigen Augenblicken auf die Erde donnert. Diese ballistischen Mittelstreckenraketen bringen Furcht und Schrecken. Sie zerstören alles, was sich ihnen in den Weg setzt, und vernichten jegliche Freude an den Lichtern der Nacht. Seit dem Überfall Russlands auf die Ukraine am 24. Februar 2022 erinnert das Licht am Himmel nicht mehr an den Stern über Bethlehem, der den Friedensfürsten ankündigt. Nein, ganz und gar nicht. Stattdessen lässt es für die Menschen in Charkiw, Mariupol, Saporischschja oder Cherson alles erstarren. Die Zeit hält für einen Moment an. Für andere endet sie.

Mit dem falschen Bild eingesetzt

Ich muss gestehen, dass ich gerade alles falsch gemacht habe. Im homiletischen Hauptseminar wurde mir beigebracht, dass man unter keinen Umständen mit einem negativen Bild in die Predigt einsteigt. Ein düsteres Bild lässt sich kaum mehr revidieren. Da kann ich noch so viel dagegen anpredigen. Erst lasse ich Sie in die bittere Realität vieler Menschen auf dieser Welt stürzen und dann soll ich Ihnen jetzt etwas Gutes, gar etwas Hoffnungsvolles oder Besinnliches erzählen? Mit Leichtigkeit soll ich Sie doch wieder in diese Welt schicken. Nicht noch mehr düstere Nachrichten thematisieren, die sich vibrierend in unserem Unterbewusstsein längst einen zweiten Sitz im Leben geschaffen haben.

Ja, vielleicht war das kein ganz gelungener Start. Wer eine gute Botschaft setzen will, muss damit beginnen. Aber will ich das? Sollte ich das? Muss ich etwa eine Brücke bauen und vermitteln, damit die gute Botschaft bei Ihnen ankommt?

Setzt sich der christliche Glaube nicht auch erst in Gang, als die Jünger vor dem Grab stehen? Beginnt die Hoffnung nicht da, wo nichts mehr ist?

Die Frage als Zugang zu Gott

2 HERR, der du bist vormals gnädig gewesen deinem Lande und hast erlöst die Gefangenen Jakobs; [...]

6 Willst du denn ewiglich über uns zürnen und deinen Zorn walten lassen für und für?

7 Willst du uns denn nicht wieder erquicken, dass dein Volk sich über dich freuen kann?

8 HERR, zeige uns deine Gnade und gib uns dein Heil!

Manchmal finden wir nur über die Frage einen Zugang zu Gott. Auch wenn sich nicht alles klären, bessern, beschönigen oder gar auflösen lässt. Manchmal lässt sich Gott bitten. Auch wenn wir damit nicht zu mächtigen Befehlshabern der Welt werden und die Souveränität jedoch in unseren Händen liegt. Manchmal sind die Geschichten – und vorallem die Geschichten des Glaubens – das Einzige, was uns daran erinnert, dass unsere Gegenwart auch anders aussehen kann.

Herr, unser Gott, wo bist du?

Wie uns dieser biblische Text vor Augen führt, ist die Frage des Rätsels Lösung. Gott ist nicht abwesend. Aber Gott ist auch nicht die Erklärung, warum alles ist, wie es ist. Auch nicht das Puzzle-Teil, mit dem dann alles Sinn ergibt. Mit der Frage treten wir in den Riss im Gefüge. Der Himmel steht sprichwörtlich offen.

Herr, du warst gnädig. Gott, du hast die Gefangenen erlöst. Gott, wir sind Zeugen deiner Gerechtigkeit und Gnade gewesen, wir wissen doch, dass wir nicht uns selbst überlassen sind.

Es gibt hier eine Lücke im System. Genau darein tritt der Glaube, der Schrei nach Gott, nach Frieden und Gerechtigkeit, nach Liebe und Gnade, nach Geborgenheit und Schutz.

Manchmal ist die Frage der Zugang zu Gott. Und es gibt keine dummen Fragen. Fragen eröffnen uns die Wirklichkeit, lassen uns anders und neu auf diese Wirklichkeit blicken. Wir sehen mehr, wenn wir fragen. Fragen eröffnen einen Raum, setzen uns in ein Verhältnis. Wir verstehen mehr, wenn wir fragen.

Fragst du? Wo ist deine Frage? Was ist deine Frage? Wagst du es noch zu fragen? Oder schreckst du zurück vor dem was danach kommt? Unser Fragen bleibt ein Wagnis, ein Ruf in diese Welt und darüber hinaus. Unsere Frage fordert Gott heraus. Traust du dich das?

Gottes Wirklichkeit: Fried-fertig

9 Könnte ich doch hören, was Gott der HERR redet, dass er Frieden zusagte seinem Volk und seinen Heiligen, auf dass sie nicht in Torheit geraten.

Könnte ich doch nur hören, ruft der Psalmist und verändert damit die Perspektive. Trotz aller Fragen – und aller Umstände – stellt er gerade den Frieden nicht in Frage, negiert ihn nicht.

Der Friede ist da. Gott sagt Frieden zu: "Meinen Frieden gebe ich euch." Wie ein schützender Wall umgibt Gott sein Volk, wendet sich ihnen zu und lässt sie Teil haben an seinem Wesen. Gott umfriedet die Menschen. Gott ist ein fried-voller Gott, ein Gott des Friedens. Gott ist fried-fertig. Gott hat Frieden bereitet und sagt uns dies zu. Gottes Frieden ist fertig, aber keineswegs zu Ende oder vorbei. Gottes Frieden ist fertig und bereitet. Indem Gott fried-fertig ist, setzt er uns einen Anfang für den Frieden. "Kommt her zu mir, alle die ihr mühselig und beladen seid. Ich bereite vor euch einen Tisch im Angesicht eurer Feinde. Kommt her zu mir, es ist alles bereitet."

Ein Gemälde des Friedens

Stellen Sie sich das vor! Es ist alles da, der Tisch ist gedeckt. Sie können sich setzen. Die Sitze sind bequem. Das Polster gibt etwas nach, wenn Sie sich daraufsetzen. Auf dem Tisch stehen die besten Leckereien, ein buntes Büffet. Obst, Gemüse, kalte und warme Speisen. Und der kleine Löffel über ihrem Teller verheißt sogar noch eine Nachspeise. Hören Sie das Lachen und die Stimmen? Es sitzen bereits Menschen am Tisch. Spüren Sie die Leichtigkeit im Raum? Schauen Sie hin: Die Menschen sitzen sich gegenseitig zugeneigt am Tisch. Es herrscht eine vertrauensvolle Stimmung, niemand sitzt am Rand. Es kommen immer mehr Menschen hinzu. Niemand erhebt sich über den anderen. Fragen eröffnen Gespräche. Das Zubereitete wird auf den Platten umhergereicht. Es ist genug für alle da. Manch einer wippt mit dem Fuß zur Musik, eine andere fordert zum Tanz auf.

Machen Sie sich ein Foto, halten Sie den Moment fest, denn Frieden kann so schön sein.

Könnten wir doch nur hören...

Könnten wir das hören, unsere Welt wäre eine andere. Würden unsere Ohren das vernehmen, uns wäre geholfen. Würden wir sehen, wie Gott diese Welt sieht, so hätten wir ein anderes Bild von dieser Welt. Würden wir sehen und schmecken, wie freundlich der Herr ist, diese Realität wäre nicht so bitter. Dabei müssten wir doch nur hören, wir müssten nur sehen und schmecken.

Darf ich Sie erinnern: Der Frieden ist fertig. Gott ist friedfertig. Deshalb ist Frieden nichts Abstraktes, kein Konzept, das wir nur anwenden müssen. Frieden ist eine Tatsache, die wir in der Tat umsetzen dürfen. Frieden ist eine göttliche Wirklichkeit, bereitet am Tisch des Herrn. Deshalb ist Frieden unsere Möglichkeit. Unser Anfang liegt in der Friedfertigkeit Gottes. Frieden beginnt, weil anderes beendet ist. Dem Anderen, dem Unfrieden, ist ein Ende gesetzt. Gott setzt seinen Frieden in Gang, deshalb lasst auch uns den Frieden menschlich auf die Kette kriegen. Frieden ist keine Idee, die sich erst noch durchsetzen muss. Kein Ideal, dem lediglich manche anhängen. Frieden ist doch in aller Munde, weil wir – womöglich intuitiv – wissen, dass er uns zugesprochen ist, das Frieden in irgendeiner Form eine menschliche Möglichkeit sein muss.

Was ist gerechter Friede?

Aber was ist nun der gerechte Friede? Und wie beginnt Frieden?

Er beginnt da, wo wir einander die Hand reichen, und merken, dass wir doch zuvor schon verbunden waren. Frieden beginnt mit Worten, Worte, die wir finden, weil sie schon da sind, zugesprochen, verheißen, über uns ausgesprochen. So große Worte wie Vergebung, wie Barmherzigkeit, „Du bist mein Nächster und meine Nächste“. Tastend dürfen wir uns damit an unser Gegenüber vorwagen. Und so siegen wir nicht über einen Gegner, sondern gewinnen unsere Mitmenschen durch die Worte. Frieden setzt ein, wenn wir uns an den Tisch des Herrn setzen, wenn wir mal alles fahren lassen, unsere Ansprüche, alten Rechnungen und Geschichten. Hier nehmen wir weder als Gewinner noch als Verlierer Platz, sondern allesamt als Empfangende. Frieden wächst, wo wir die eigene Verletzlichkeit nicht zudecken und die der anderen nicht ausnutzen, sondern uns schützend vor sie stellen. Diesen Frieden gibt es nicht um jeden Preis oder um des lieben Friedens willen. Er bedeutet Wahrheit und Offenheit. Nichts ist zugedeckt oder unter den Tisch gekehrt. Die Brüche werden nicht zugekleistert, aber ihre scharfen Kanten werden entschärft.

Frieden als Vor-Stellung Gottes

Wer nun einwenden mag, ob das alles nicht eine Vorstellung sei, dem kann ich nur zustimmen. Denn das ist es. Gott hat uns diesen Frieden vor-gestellt. Immer wieder und ein für alle Mal gültig zeichnen die biblischen Texte ein Bild des Friedens. Sie speisen sich aus der Hoffnung, dass Gott unserer Geschichte ein friedvolles Ende zugesagt hat. Das ist keine Vertröstung, sondern unser einziger Trost. Ist das nicht weltfremd? Ganz und gar nicht. Es ist weltöffnend.

Wenn wir deshalb heute über den gerechten Frieden hören, dann müssen wir nicht verzagen. Am Ende setzt sich dieser Friede selbst durch, das ist unsere Hoffnung. Aber gerade weil wir uns an dieses Ende halten, kennen wir diese Geschichte noch nicht. Nur weil wir die letzten Seiten kennen, haben wir noch nicht das ganze Buch gelesen. Vielmehr dürfen wir Einspruch erheben und diese Geschichte kritisch begleiten. Wir dürfen hoffen und beten. Für unser Handeln ist ein Anfang gesetzt.

Deshalb versammeln wir uns auch als Protest- und Trotzgemeinschaft. Wir trotzen den alten Geschichten, beginnen die neue Geschichte. Der Frieden fällt vielleicht nicht vom Himmel, aber manchmal liegt er uns doch vor den Füßen. Er ist uns vor-gestellt.

Und in dieser Hoffnung gehen wir trotz, in und mit all unseren Umständen in ein neues Jahr mit einer Losung, die uns verheißt: „Gott spricht: Siehe, ich mache alles neu.“

Amen.

Zum Seitenanfang