Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

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Durst (Ps 42)


Predigt von Dr. Thea Sumalvico im Universitätsgottesdienst am 9. Juni 2024 in der Laurentiuskirche

Was nährt deine Seele? Liebe? Freiheit? Ein Gebet?
So unterschiedlich unsere Antworten auch ausfallen mögen, so ähnlich ist vielleicht das Gefühl, wenn – plötzlich oder schleichend – das fehlt, was die Seele nährt. Wie eine ausgetrocknete Pflanze drohen wir in Einzelteile zu zerfallen. Der Boden unter unseren Füßen ist ausgetrocknet und gibt keinerlei Halt mehr. Wir sind uns selbst abhandengekommen und auch Gott scheint uns möglicherweise unerreichbar weit weg. Durst nach dem Leben ergreift von uns Besitz.

Im Alten Testament – so auch im Psalm 42, den wir gerade gebetet und gesungen haben – begegnet uns immer wieder die Vorstellung, dass sich die Seele, auf Hebräisch: Nephesch, das, was das Leben des Menschen ausmacht, von Gottes Gegenwart im Tempel nährt. Hier zieht sie ihre Kraft. Andersherum: Entzieht sich Gott, verbirgt er sein Angesicht, ist der Seele, und damit dem gesamten Menschen, die Lebensgrundlage entzogen.

Die Seele, deren Schrei zu Beginn des Psalms 42 ertönt, ist abgeschnitten von der Nähe des Tempels, möglicherweise im Exil, und damit auch abgeschnitten von der Nähe Gottes. Das ist mehr als eine missliche Gefühlslage oder eine unerfüllte Sehnsucht, das ist lebensbedrohlich. Das Zentrum fehlt, alle Gewissheiten sind zerbrochen, die Welt steht Kopf. Die Seele, Nephesch, die zugleich auch „Kehle“ heißt, hat Durst; dürstet nach Gott, ihrem Lebenswasser. Der Durst nach Gottes Nähe macht Angst.

Neuere exegetische Forschung räumt bezüglich des Schreiens des Hirsches, das am Anfang des Psalms als Vergleich dient, mit einigen üblichen Assoziationen auf: Alte Übersetzungen, angefangen von der griechischen Septuaginta bis hin zur älteren Lutherbibel haben mit Worten wie „lechzen“, „verlangen“, „begehren“ suggeriert, es gehe primär um Sehnsucht. Die Leipziger Alttestamentlerin Anja Marschall hat dagegen – anknüpfend an rabbinische Tradition – kürzlich gezeigt, dass das Schreien (nicht: Lechzen) des Hirsches primär als Schrei der Angst und des Erschreckens zu verstehen ist. Gefahr ist im Verzug; ein Raubtier vielleicht, oder Menschen, die in den Lebensraum der Tiere eindringen. Der intuitive Angst-Schrei ist zugleich eine Warnung an die Herde. Der Hirsch, wahrscheinlich eher: die Hirschkuh, schreit also nicht nach frischem Wasser, sondern am– die Wasserstelle war vermutlich ein Ort, an dem Mensch und Tier einander oft begegneten und so das angsterfüllte Schreien besonders häufig zu hören war. Die verschreckten Tiere können wegen der Gefahr nicht an die Wasserstelle; sie leiden Durst - und die Gefahr wird doppelt existentiell.

Die Seele schreit ebenfalls intuitiv und in existentieller Angst: Sie braucht Gottes Nähe wie die Hirschkuh das Wasser – zum Überleben. Ist Gott fern, ist sie bedroht. Auch ihr Schrei ist ein Aufschrei, der das Lebensbedrohliche dieser Situation klarmacht. Objekt dieses Lebensdurstes ist Gott – er ist zugleich aber auch Adressat des Schreis. Wird er gewarnt, alarmiert, wie die Herde durch den Schrei der Hirschkuh? Es ist wirklich allerhöchste Zeit einzugreifen, Gott! Es geht nicht um irgendein nettes Wohlbefinden, es geht um Leben und Tod!

Es ist genug! Schreit Elia, wie wir vorhin hörten, in der Wüste. Und auch für ihn geht es um Leben und Tod.

Dieser Schrei zu Beginn des Psalms bleibt ein Schrei, er kleidet sich nicht in Worte, sondern in Schmerz und Überlebensangst.

Die betende Person schaltet sich ein und setzt zum Selbstgespräch mit ihrer Seele an. Versucht Intuition, Angst und Schmerz in die Schranken zu weisen: Was betrübst du dich, meine Seele und bist so unruhig in mir? oder, wie andere Übersetzungen schreiben: was begehrst du gegen mich auf?

Was für eine Frage! Der Boden ist der Seele unter den Füßen weggezogen, Gott, dessen Nähe lebensnotwendig ist, ist so fern wie nie. Die Seele hat allen Grund, sich zu betrüben, zornig zu sein, zu verzweifeln, aufzubegehren. Die betende Person aber, vielleicht mit der Stimme der Vernunft, versucht an bessere Zeiten zu erinnern: Als der Tempel noch nah war, als man gemeinschaftlich Gottes Nähe feiern konnte.

Wäre die Seele tatsächlich getröstet mit dieser Erinnerung, könnte der Psalm hier enden. Doch die Unruhe der Seele ist geblieben: Mein Gott, betrübt ist meine Seele in mir! Die Erinnerung an bessere Zeiten, sie scheint das ganze eher schlimmer zu machen: Es ist wie Mord in meinen Gebeinen, wenn mich meine Feinde schmähen!

Die Aufforderung an die Seele, sich mit Erinnerungen besänftigen zu lassen, still zu halten und passiv auszuhalten, verstärkt ihr Leid. Die Verneinung der existenziellen Not ist für die Seele keine Lösung. Im Zwiegespräch zwischen betender Stimme und Seele kann man den Refrain, das „harre auf Gott!“ statt tröstlich auch anders hören: als gewaltvoll und ignorant; erbarmungslos wie Hiobs Freunde, die ihn von Gottes Gerechtigkeit überzeugen und seinen Schmerz so weg reden wollen.

Die Seele muss klagen dürfen! Wer einem Durstigen von den köstlichen Limonaden erzählt, die er in der Vergangenheit getrunken hat, wird nicht nur den Durst verstärken, sondern auch die Wut. Wenn ich nicht habe, was meine Seele nährt – Liebe, Geborgenheit, Raum zur Entfaltung – dann möchte ich nicht abgespeist, nicht beruhigt werden. Nicht von anderen und erst recht nicht von mir selbst.

Und kann Erinnerung an bessere Zeiten wirklich Hoffnung für die Zukunft machen? Die alten Antworten und Lösungen scheinen ja eben gerade nicht mehr tragfähig. Wenn der Boden wankt und bisher Selbstverständliches in Frage steht, dann helfen alte Antworten nicht. Die betende Stimme aber versucht, Kontinuität herzustellen mit einem „weißt du noch“; damals am Tempel? – und sie ignoriert dabei den Bruch, der passiert ist. Die Seele kann nicht zurück zum Tempel. Sie muss mit dem Verlust dessen leben, was ihre Lebensquelle war – um überhaupt zu neuen Lebensquellen aufbrechen zu können.

Das Klagen wird also intensiver, und die betende Stimme, so scheint es, stimmt in die Klage der Seele allmählich mit ein, sie wird zur Anklage an Gott: „Warum hast du mich vergessen? Warum muss ich so traurig gehen, wenn mein Feind mich drängt?“

Der wortlose Schrei der Seele beginnt Worte zu finden. Die Beterin fängt an, ihre Seele ernst zu nehmen; speist sie nicht mehr ab, sondern gibt ihrer existentiellen Angst Raum. Der zweite Refrain „harre auf Gott!“ hat damit vielleicht schon einen sanfteren Klang: Noch immer versucht die betende Stimme, beruhigend auf die Seele einzuwirken, aber sie hat verstanden, dass die Klage ihre Berechtigung hat und ihren Raum braucht. Die Tränen, die die Stimme der Vernunft zu unterdrücken gesucht hat, dürfen fließen.

Und die Geschichte zwischen Beterin und Seele geht weiter – Psalm 42 und Psalm 43 gehörten ursprünglich höchstwahrscheinlich zusammen; und mit Psalm 43 setzt die Beterin zu einer klaren, formalisierten Klage an: Schaffe mir Recht, Gott. Und führe meine Sache wider das treulose Volk und errette mich von den falschen und bösen Leuten. […] Sende dein Licht und deine Wahrheit, dass sie mich leiten!

Wie der Schrei zu Beginn ist auch die Klage an Gott als Adressaten gerichtet – er wird zum Handeln aufgefordert: Schaffe Recht! Streite! Sende! Zugleich ist aber auch die Beterin selbst nun ins Handeln gekommen, indem sie ihre Intuitionen nicht mehr unterdrückt, sondern klar verbalisiert. Der Schritt aus der verzweifelten Selbstverkrümmung ist vollzogen. Die Not ist damit nicht behoben, der Lebensdurst nicht gestillt. Immerhin aber: Beterin und Seele haben wieder zueinander gefunden und setzen gemeinschaftlich zur Klage an. Hoffnung war im Selbstgespräch letztlich nicht zu finden, sondern erst dort, wo der Schmerz und die Klage nach außen dringen.

Die betende Person bedient sich hier eines formalisierten Klagetextes: Können alte Texte zum Durstlöscher werden; die Gottesnähe wiederherstellen? Wohl nicht, wenn sie wie am Beginn des Psalms, eine schlichte Erinnerung an vergangene Zeiten sind. Ein Zurück zu dem, wie es immer war, wird es nicht geben. Der Versuch, den die betende Stimme zu Beginn des Psalms unternahm, nämlich: durch ein weißt du noch Kontinuität herzustellen, musste scheitern: Es ist ein Bruch passiert im Leben der Seele – und der muss ernst genommen, verarbeitet werden. Wenn ich die eigene Not annehme dann muss ich nicht alles Gelernte über Bord werfen; dann können auch alte Texte, nicht zuletzt Psalm 42 selbst, helfen, diese Not in Worte zu fassen. Noch kein Durstlöscher, aber doch auch mehr als ein Tropfen auf den heißen Stein. Eine Stärkung in der Wüste vielleicht, von der wir vorhin in der Elia-Geschichte hörten. Elia muss nach einem massiven Bruch in seinem Leben neu aufbrechen – kann es nun aber auch, nachdem er geklagt hat, nachdem er gestärkt wurde.

Der sich im Doppelpsalm ein drittes Mal wiederholende Refrain: Harre auf Gott! klingt jetzt schon zuversichtlich. Das Warten, das Dürsten nach dem, was meine Seele nährt, hat noch kein Ende. Aber es wird ein Ende nehmen und Gottesnähe zu spüren sein. Anders, als es in den alten Tagen war. Aber der Aufbruch zu neuen Lebensquellen, der Übergang in eine neue Lebensphase, kann gelingen.

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