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Allversöhnung (Kolosser 1,15-20)


Predigt von Propst Reinhard Hentschel zum Semesterschlussgottesdienst am 19. Juli 2023

Liebe Universitätsgemeinde, liebe Stadtgemeinde, liebe Gäste!

Der Predigttext für diesen Gottesdienst steht im Brief an die Kolosser im 1. Kapitel (15-20):
Er ist Bild des unsichtbaren Gottes, der Erstgeborene der ganzen Schöpfung. Denn in ihm wurde alles erschaffen im Himmel und auf Erden, das Sichtbare und das Unsichtbare, Throne und Herrschaften, Mächte und Gewalten; alles ist durch ihn und auf ihn hin erschaffen. Er ist vor aller Schöpfung und in ihm hat alles Bestand. Er ist das Haupt, der Leib aber ist die Kirche. Er ist der Ursprung, der Erstgeborene der Toten; so hat er in allem den Vorrang. Denn Gott wollte mit seiner ganzen Fülle in ihm wohnen, um durch ihn alles auf ihn hin zu versöhnen. Alles im Himmel und auf Erden wollte er zu Christus führen, der Frieden gestiftet hat am Kreuz durch sein Blut. (Kol 1,15-20)

„Allversöhnung“ – puh, dachte ich als ich las, welches Thema man mir für den Abschluss des Predigtzyklus der Universitätsgottesdienste in diesem Sommersemester zugedacht hat.

Darüber haben sich schon ganz andere den Kopf zerbrochen: Angefangen von Origines, über Augustinus, die Synode von Konstantinopel bis zu Karl Barth, Emil Brunner und Hans Urs von Balthasar. Wer noch einen literarischen Ort für das Thema sucht, der sei auf Dostojewskis „Die Brüder Karamasow“ hingewiesen.

Nicht nur einer ganzen Reihe hochrangiger Theologen der Geschichte und der Gegenwart soll ich mit einer Predigt folgen. Ein weiteres Problem soll zumindest erwähnt sein. Das Problem der begrifflichen Unterscheidung zwischen „Allversöhnung“, „Allaussöhnung“, „Allerlösung“, der „Apokatastasis panton – der Wiederbringung aller“ und des „Heilsuniversalismus“. Das alles ist als Kontext zumindest zu erwähnen und zu beachten.

Und wenn ich mich auf den biblischen Text für diese Predigt konzentriere, so hat dieser einen Kernsatz, der auf den Begriff „Allaussöhnung“ hinzielt.
Der Kernsatz lautet: „Alles im Himmel und auf Erden wollte er zu Christus führen, der Frieden gestiftet hat am Kreuz durch sein Blut.“ (Kol 1,20)

"Gebt mir einen festen Punkt im All, und ich werde die Welt aus den Angeln heben. “

Es war ein Grieche, der vor mehr als 2200 Jahren diesen markigen Satz aussprach – Archimedes. Er spielte damit auf das bereits in der Antike bekannte Hebelgesetz an.

Wenn wir so wollen, benennt Paulus im Kolosserbrief Jesus Christus als den Angelpunkt: Alles ist in ihm, durch ihn und auf ihn hin geschaffen. Christus umspannt umfassend die gesamte geschöpfliche Wirklich­keit, ihrer Herkunft wie ihrer Zielbestimmung nach: nicht nur durch ihn, auch auf ihn hin ist alles geschaffen. ER ist Ursprung und Ziel. Das sind steile Aussagen. Sie spiegeln wider, was sich im Großen Glaubensbekenntnis in den Worten ausdrückt:

„Wir glauben an den einen Gott,
den Vater, den Allmächtigen,
der alles erschaffen hat, Himmel und Erde,
die sichtbare und die unsichtbare Welt.
Und den einen Herrn Jesus Christus,
Gottes eingeborenen Sohn,
aus dem Vater geboren vor aller Zeit:
Gott von Gott, Licht vom Licht,
wahrer Gott vom wahren Gott,
gezeugt, nicht geschaffen,
eines Wesens mit dem Vater;
durch ihn ist alles geschaffen.“

In etwas legerer Sprache formuliert heißt das: Zwischen den Schöpfergott und Jesus Christus passt kein Blatt Papier. Sie sind ein göttliches Wesen, das die Welt ursprünglich geschaffen hat.

Und dieses gleiche göttliche Wesen ist das Ziel aller Schöpfung und des Alls. Ursprung und Ziel sind eins.

Am Anfang der Schöpfung steht das Qualitätsurteil des Schöpfergottes: „Und siehe, es war sehr gut“ (Gen 1,31)

Wie spannungsreich letztlich die Geschichte verlaufen ist und verläuft, stellt dieses Qualitätsurteil allerdings immer wieder in Frage und sie ruft nach Antworten.

Ganz so eindeutig wie das Schöpfungsurteil ist die Vision des Sehers Johannes in der Offenbarung nicht: „Seht die Wohnung Gottes unter den Menschen!...Er wird alle Tränen von ihren Augen abwischen: Der Tod wird nicht mehr sein, keine Trauer, keine Klage, keine Mühsal. Denn was früher war, ist vergangen...“ (Vgl. Offb 21,3-5)

Steht am Anfang so etwas wie Schöpfungsoptimismus, setzt dem gegenüber die Offenbarung Johannes einen großen Realismus voraus: Sieh sieht, was Mensch und Schöpfung bedroht und mit tiefen Wunden versehen hat. Das alles wird keineswegs ungeschehen gemacht, es ist geschichtliche Wirklichkeit und wird mit Gottes Eingriff in die Geschichte ausgesöhnt, geheilt, erneuert. Auch danach bleiben die geschlagenen Wunden wie die Wunden des Gekreuzigten nach seiner Auferstehung bleiben und ihn als den „gekreuzigten Erlöser“ kennzeichnen. „Durch seine Wunden sind wir geheilt“ sagte Jesaja prophetisch in seinen Liedern vom Gottesknecht. (Jes 53,5)

Der Hymnus des Kolosserbriefes ist hohe Theologie. Diese droht ja auch schon mal über die Köpfe hinwegzugehen. Deshalb ist die Frage erlaubt:

Ist das für aufgeklärte Menschen interessant und bedeutet das etwas für sie? Oder ist es eine unrealistische Theorie?

Auch biblische Texte erhalten ihre Relevanz nicht aus sich selbst. Sie stehen immer im Kontext und im Dialog mit ganz konkreten Menschen und ihren Erfahrungen.

Und deshalb sind Schlüssel für die Relevanz der biblischen Botschaft immer auch die Fragen, die Menschen heute und ganz aktuell bewegen.

  • Wie lassen sich der Krieg in der Ukraine und die zahlreichen anderen kriegerischen Konflikte weltweit beenden?
  • Lässt sich die Welt überhaupt und wenn ja, dann auf welchem Weg und mit welchen Mitteln befrieden?
  • Wie gehen wir mit historischer Schuld um, zum Beispiel dem Holocaust und anderen Genoziden?
  • Was ist gegen den um sich greifenden Antisemitismus zu tun?
  • Wie beenden wir die Fluchtbewegungen von über 100.000.000 Menschen weltweit?
  • Lässt sich das Klima überhaupt noch retten?
  • Wie wird wohl die Geschichte ausgehen?
  • Sind wir die letzte Generation?
  • Erreicht Gott sein Ziel, wenn er denn ein Ziel für diese Welt hat?
  • Sind wir noch zu retten?
  • Wir am Ende alles gut?


In der Tat steckt der Teufel buchstäblich im Detail des Umgangs mit all diesen einzelnen Fragen, Problemen und komplexen Angelegenheiten.

Wem nütz da eine hohe Theologie von einem guten Schöpfer, der auch ein guter Erlöser sein wird?

„Die Botschaft hör' ich wohl, allein mir fehlt der Glaube.“ Diesen Satz lässt Goethe seinen Faust gegen Ende dessen großen Eingangsmonologs sagen. Nachdem die Wissenschaften seinen Erkenntnisdurst nicht zu stillen vermochten, spielt er kurz mit dem Gedanken, es noch einmal mit den Verheißungen der Religion zu versuchen – ohne Erfolg.

Der Dichter des Kolosser-Hym­nus weiß sehr wohl, dass die im Hymnus bekannte Versöhnung der Welt nicht überall und ohne Weiteres abzulesen ist.

Die christliche Botschaft liefert keinen „Königsweg“ und sie ist aus sich heraus kein Patentrezept gegen alle möglichen Nöte und Sorgen.

Dennoch ist sie wahr, denn es ist richtig, dass Gott durch Jesus die Möglichkeit geschaffen hat, dass alle Menschen mit ihm versöhnt werden können. Diese Versöhnung geschieht jedoch nicht automatisch. Sie muss in Anspruch genommen werden und setzt meine Mitwirkung voraus. Alle, die der Vergebung durch Jesus teilhaftig werden wollen, müssen dafür eine Bedingung erfüllen, die Gott stellt: Ich muss Jesus als Erlöser anerkennen und annehmen. Er ist der einzige Weg zum Vater (Joh 14,6).“

Entscheidungsfreiheit in moralisch-ethischen Fragen bedeutet, dass das Ende des Weges für alle Menschen nicht von vornherein feststeht. Eine aufgezwungene Allversöhnung würde diese Entscheidungsfreiheit zunichte machen. Gott zwingt niemanden zur Reue und Annahme des ewigen Lebens.

Wenn die Allversöhnung bei Gott von vornherein beschlossene Sache ist, stellen sich noch ganz andere Fragen: Warum hat Gott uns überhaupt so geschaffen, dass wir verschiedene Optionen bei einer Entscheidungsfindung abwägen können? Warum müssen die Menschen leiden? Warum hat er uns nicht gleich als seine Geistkinder geschaffen, wenn das sowieso das unausweichliche Ziel der menschlichen Existenz ist?

Nach Gottes Plan ist unsere / ist meine eigenverantwortliche Entscheidungsfreiheit unerlässliche Voraussetzung dafür, dass uns / dass mir der geistliche Charakter zuteil wird, den Gott für seine Kinder bereit hält. Diese Entscheidungsfreiheit bedeutet aber, dass man sich / dass ich mich auch gegen Gott entscheiden kann.

Ein Thema, das in der Bibel immer wieder vorkommt, hat mit der Wahl zu tun, die jeder Mensch treffen muss. Niemand kann sich drücken, jeder muss sich entscheiden.

Von Adam an bis heute hat Gott dem Menschen das Recht, die Pflicht bzw. die Notwendigkeit auferlegt, eine Wahl zu treffen.

Wie sieht die Entscheidung in meinem Leben aus? Bin ich für oder gegen Gott? Die Antwort auf diese Frage hängt nicht von der Allversöhnung, sondern allein von mir ab.

Es geht hier nicht in erster Linie darum, dass Gott es mit der Welt schon irgendwie richten wird. (Die Kölner sagen: „Es  hätt noch immer jut jegaange..) Im Hintergrund steht vielmehr die Vorstellung, dass die Welt in sich zerstritten und zerrissen ist. In Christus aber hat Gott begonnen, diesen Riss zu heilen und so die neue, die erneuerte Schöpfung heraufzuführen. Angesichts bedrohlicher, unheilvoller Seiten der Erfahrung vermittelt der Hymnus ein Grundvertrauen in die Schöpfung. Der Wille des Schöpfers ist auf heilvolles Leben hin ausgerichtet.

Gleichzeitig hat Gott allerdings verfügt, dass ich als Mensch wählen muss. Als Mensch muss ich entscheiden, ob ich das ewige Leben haben will oder nicht. Will ich das ewige Leben, dann muss ich meinen eigenen Weg eigenen Weg immer wieder am Weg Gottes orientieren und korrigieren. Nur diejenigen, die sich für diesen Weg entscheiden und an Jesus Christus glauben (Joh 3,16), erhalten Gottes Gabe des ewigen Lebens.

Glaube bleibt nicht passiv, sondern geht Hand in Hand mit Werken, die unseren freien Willen bzw. unserer Entscheidungsfreiheit ausdrücken.

Was wird aber aus denen, die es ablehnen, ihre Sünden zu bereuen und lieber auf dem Weg der Sünde bleiben? Eine Antwort der Heiligen Schrift gibt der Römebrief: „Denn der Sünde Sold ist der Tod“ (Röm 6,23).

Im Psalm 72,4 , den wir eingangs beteten hieß es „.... er wird die Unterdrücker zermalmen“

Ja, wer noch Ohren hat und Augen wird mit einer schier unfassbaren Zerstörung der Schöpfung konfrontiert. Nach wie vor durchziehen tiefe Risse diesen Kosmos, tiefe Risse zwi­schen erster, zweiter und dritter Welt, zwischen gesellschaftlichen Gruppen, mühsam genug auch oft noch zwischen den Geschlechtern und alltäglich zwischen einzelnen Geschöpfen.

Aber doch gibt es Momente, wo sich diese Versöhnung erfahren lässt, die aus dem Glauben an die durch Christus ge­wirkte Versöhnung mit Gott erwächst. Dort nämlich, wo ich mich ab­seits meiner vermeintlichen Leistungen angenommen und gehalten weiß, neu und anders auf andere Menschen und auf die Mitgeschöpfe zugehen kann; auf an­dere Menschen, die als Geschöpfe Gottes ebenfalls von Gott mit un­verlierbarer Würde ausgestattet sind und denen das Versöhnungs­handeln Gottes in Christus ebenso gilt wie mir.

Christli­cher Glaube sieht die Schöpfung als das Werk des einen Gottes, der sich in Jesus Christus offenbart hat.

Die Schöp­fung gerät damit gerade nicht automatisch in den Schatten des Versöh­nungswerks. Es geht vielmehr um eine Schule, in der ich sehen lerne und im Licht des Christusgeschehens in der Schöpfung auf Spuren der Güte Gottes achtsam zu werden: Wer den Spuren Christi folgt (vgl. 1Petr 2,21), ist auf dem Weg, zum „Ewigen Frieden“, den der Kolosserbrief mit seiner etwas sperrigen theologischen Sprache beschreibt und der uns in unserer täglichen Arbeit und in unserem Bemühen herausfordert, immer wieder Wege der Aussöhnung zu suchen und zu finden. Gott seinerseits hat seinen Weg gefunden und beschritten.

Bleiben und werden wir Suchende, Sehende und Hörende!
Amen

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