Abrahamsschoß (Lk 16,19-31)
Predigt von Prof. Dr. Michael Germann im Universitätsgottesdienst am 20. Oktober 2024 in der Laurentiuskirche
Liebe Universitätsgemeinde!
Mit wem möchten Sie tauschen? Mit dem armen Lazarus oder dem namenlosen Reichen? Sagen Sie nicht „Vater Abraham“, dessen Rolle steht nicht zur Wahl. Die Optionen sind klar und unterscheiden sich drastisch voneinander, in zwei mal zwei drastischen Situationsbeschreibungen.
Die Option Lazarus: hienieden draußen vor der Tür, voll von Geschwüren, hungernd, mit dem Begehren, sich vom Müll des Reichen sättigen zu können, was selbst anscheinend sogar ein bloßer unerfüllter Wunsch bleibt. Die Horrorsituation wird erzählerisch gekonnt gesteigert durch die Hunde, die an den Geschwüren lecken. Das hat offenbar nichts mit Wundpflege zu tun oder mit dem kribbeligen Wellnessangebot für Leute, die Geld dafür bezahlen, damit kleine Fische ihnen die Hühneraugen von den Füßen knabbern. Zu denken ist eher an den vors Gesicht geschnallten Käfig mit vor Hunger rasenden Ratten aus Orwells „1984“. Die leckenden Hunde halten die Geschwüre offen und den Schmerz hoch, sie gieren nach dem Vorgeschmack davon, bald das Leichenfleisch von den Knochen zu nagen. Lazarus ist Hundefraß. Das ist die Option Lazarus hienieden. Die Option Lazarus am Ende: ewig geborgen in Abrahams Schoß. Der Erzähler hat es nicht nötig, das erzählerisch auszumalen. Abrahams Schoß ist sprichwörtlich genug.
Die Option des Reichen hienieden: alle Tage herrlich und in Freuden leben. Der Erzähler findet die Kleidung besonders anschaulich dafür, wobei Purpur und kostbares Leinen Geschmackssache sein dürfen, an ihre Stelle möge jeder seine modischen Vorlieben setzen und vor der Auswahl aus dem Katalog der Wunschfee gründlich darüber nachdenken, denn solche Probleme hätte man ja gerne. Jedenfalls alle Tage herrlich und in Freuden. Um sich dabei reflektiert zu geben, trompete man dazu ein „Hauptsache gesund“. Um sich über den launigen Unernst des Schicksalrads zu erheben, klopfe man sich gegenseitig auf die Schulter und empfehle super-originell: „lieber reich und gesund als arm und krank!“ Lieber der Reiche sein als Lazarus. Spaßverderber für die Option des Reichen ist natürlich sein Ende: ewig brennen in der Hölle. Auch die bekommt vom Erzähler etwas Farbe, sie ist ein Ort der Qual, ihre Flamme ist Pein. Das Höllenfeuer ist gut für die geläufigen Klischeevorstellungen von diesem Ort, lustig weitergesponnen zu Teufels Küche, in der all die Satansbraten gemeinsam in einem großen Kessel schmoren, offenbar ohne jemals gar zu werden. Da hockt er nun, der vormals Reiche, jetzt nur noch „er“, und ist verständlicherweise mit der Gesamtsituation unzufrieden. Um die Pein, die er in dieser Höllenflamme leidet, und seine Hoffnungslosigkeit nachfühlbar werden zu lassen, verwendet der Erzähler noch einmal das Stilmittel, die Situation durch ein übertrieben bescheidenes Begehren zu kennzeichnen: So wie Lazarus hienieden begehrte, sich vom Müll zu sättigen, so begehrt der Unglückliche in der Hölle nicht etwa ein Ende seiner Qual, sondern nur eine lächerliche Illusion von einer Linderung. Jedenfalls ist es für einen, der in der Hölle brennt, die Augen aufhebt und bei Abraham vielleicht einen Wunsch frei zu haben hofft, nicht die nächstliegende Idee, diese Gelegenheit mit der Kühlung der Zunge zu verbrauchen, die von einer ins Wasser getauchten Fingerspitze zu erwarten ist. Aber hier ist sie offenbar schon das höchste der vorstellbaren Gefühle, und dann wird nicht einmal daraus etwas: So schlimm ist es in der Hölle.
Mit wem würden wir gerne tauschen? Für welche Option entscheiden wir uns? Abrahams Schoß natürlich, Option Lazarus.
Dann schauen wir mal an uns herunter: Das sieht eher nach kostbarem Leinen aus als nach Geschwüren. Wir ernähren uns auch nicht von Abfall, sondern selbst bei Einschränkungen doch eher alle Tage herrlich und in Freuden. Diese günstigen Verhältnisse schließen es nicht aus, daß sich auch unter uns welche dem Elend eines Lazarus näher fühlen, von einer Sucht oder einer anderen quälenden Krankheit auf den Boden gedrückt, von der Lieblosigkeit der anderen angefressen oder in einer ausweglosen Lebenssituation gefangen. Auch machen wir uns klar, daß das Geborgenwerden eines Lazarus in Abrahams Schoß denen etwas zu sagen haben kann, die an so vielen Enden der Welt extrem leiden: die sich buchstäblich von dem Müll ernähren, den die auf der Müllhalde herrschenden Gangs übrig lassen, oder die einer der unzähligen Formen menschenverachtender Gewalt schutzlos ausgesetzt sind – eine lange Reihe von Beispielen könnte das jetzt vor das innere Auge stellen, ich sehe davon ab. Ob es denen ein Trost ist, wenn ihnen für ihr Leiden hier am Ende aller Dinge ein ewiger Ausgleich in Abrahams Schoß in Aussicht gestellt wird, lassen wir besser offen; es kann auch wie eine zynische Vertröstung wirken.
Von Lazarus wird nicht erzählt, daß er eine Option gewählt hätte. Er hat sich sein Schicksal nicht ausgesucht. Der namenlose Reiche anscheinend schon. Er hat zu Lebzeiten seine Wahl getroffen, und im Hades begleicht er die Rechnung. Das Urteil des Jüngsten Gerichts dazwischen wird in der Erzählung übersprungen. Daß das Leben des Reichen in die Hölle führt, wird mit lakonischer Selbstverständlichkeit unterstellt: „Der Reiche [...] starb [...] und wurde begraben. Als er nun in der Hölle war, hob er seine Augen auf in seiner Qual“. Zum Grund seiner Pein hat er erstaunlich wenig Fragen. Er fleht erstmal um das bißchen Gnade eines Wassertropfens. Abraham hält ihm stattdessen die Rechnung vor: im Leben gelitten, hier nun getröstet – im Leben Gutes empfangen, hier nun Pein. Einen Schuldvorwurf spricht Abraham nicht aus. Der Reiche hat Gutes „empfangen“, auch im griechischen „ἀπέλαβες“ (von ἀπολαμβάνειν) kein offensives Wegnehmen, sondern eher ein Entgegennehmen von etwas, was einem gegeben wird. Der unausgesprochene Vorwurf scheint dem Mann im Hades aber aufzugehen: Seine Bitte, die Brüder zu „warnen“, läßt darauf schließen, daß er auf eine Verantwortung für das eigene Leben zurückblickt und sich seiner Schuld bewußt ist: Er hatte die Wahl, und hat sich falsch entschieden; seine Brüder haben noch die Wahl, und sie sollen sie klüger treffen als er. Um welche Schuld es geht, wird gar nicht ausgeführt. Es ist offenbar einfach genug: Lazarus war hungrig, und der Reiche hat ihm nicht zu essen gegeben. Diesen Tatbestand hat Jesus für alle, die es genauer brauchen, in der Rede vom Weltgericht [Mt. 25, 31–46] ausformuliert und auf sich gemünzt: „ich bin hungrig gewesen und ihr habt mir nicht zu essen gegeben“. Hier läßt er Abraham ohne die Kleinlichkeiten eines strafrechtlichen Bestimmtheitsgebots pauschal auf „Mose und die Propheten“ verweisen. In deren Gesetzespredigt geht es auf Schritt und Tritt um diese schlichte sozialethische Forderung: Wer hat, soll den Armen etwas abgeben.
Wie glatt fügt sich da die Ordnung der himmlischen und höllischen Gerechtigkeit! Eine dritte Option tut sich auf: herrlich und in Freuden leben, aber auch den Armen etwas abgeben, zum Beispiel satt in unsere Kollekte für die Hallische Tafel spenden, und am Ende aller Dinge ebenso sanft in Abrahams Schoß landen wie der arme Lazarus. Mit dieser Gerechtigkeit kann man gut rechnen. Leiden wie Lazarus bringt einen auf die sichere Seite. Im Grunde sollte Lazarus dem geizigen Reichen dankbar sein, denn hätte der ihm zu essen gegeben, hätte Lazarus ja doch im Leben auch Gutes empfangen, und das hätte die am Ende auszugleichende Leidensbilanz belastet. Hat jemand im Leben Schuld auf sich geladen, könnte man ihm im Namen des Gesetzes noch rechtzeitig ein entsprechend bitteres Ende bereiten, zum Beispiel auf dem Scheiterhaufen, um die himmlische Abrechnung im Diesseits vorwegzunehmen und für das Jenseits in ewiges Heil zu wenden, durch eine Seelsorge der etwas handfesteren Art, sozusagen. Die Logik der ausgleichenden Gerechtigkeit fordert zudem folgerichtig eine Besinnung auf den juristischen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit: Wenn ein kurzes Leben als Hundefraß für ewiges Ruhen in Abrahams Schoß reicht, dann kann doch ein bißchen Herrlichkeit und Freude, über dem man aus Versehen mal versäumt hat, einem Hungrigen zu essen zu geben, nicht wirklich durch ewiges Brennen in der Hölle ausgeglichen werden müssen. Da muß doch die Höllenpein zeitlich angemessen begrenzt sein. Nach einigen Jahren Höllenfeuer sollte die Schuld als bereinigt, das Konto als ausgeglichen betrachtet werden können. Wenn Abrahams Erläuterung zufolge die Lebensleistung am Gesetz nach Mose und den Propheten zu messen ist, dann dürfen da nicht nur die Gesetzesverstöße gebucht werden, sondern es müssen auch die gesetzesgemäßen Taten gutgeschrieben werden. Sie sollten die zur Restschuldbereinigung abzubrennende Höllenzeit entsprechend verkürzen. Ein fairer Tarif dafür sollte sich finden lassen. Für die stumpfsinnigeren unter unseren Brüdern, denen die Mose- und Prophetenlektüre eine zu schwere Kost ist, könnte man das auf einen leicht faßlichen Reim bringen, in dem etwa Geld im Kasten klingt und die Seele aus dem Fegefeuer springt.
Eine Universitätspredigt an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg kann so nicht enden. Auch ganz abgesehen von der Treue zum Patron ist das Höllenkalkül nichts für uns: Denn wir glauben das alles ja nicht. Wir glauben nicht, daß da ein Feuer den Sündern die Hölle heiß macht. Ich möchte niemandem zu nahe treten, der vorsichtshalber doch ein wenig Respekt vor der Hölle hat. Es gibt sicher auch einen Sinn, das Bild vom ewigen Brennen in der Hölle in andere Vorstellungen von erfahrbarer oder metaphysischer Verdammnis zu übersetzen. Aber wenn wir gemeinsam unseren christlichen Glauben bekennen, dann kommt da keine Hölle und keine Verdammnis vor. Wir glauben, daß am Ende aller Dinge nicht die Bestrafung der Sünden steht, sondern die Vergebung der Sünden. So haben wir es gerade eben gemeinsam bekannt.
Wie soll das zum Gleichnis im Predigttext passen? Diese schroffe Gesetzespredigt läßt sich ja nicht einfach ausblenden, immerhin ist es Jesus Christus persönlich, von dem das Lukasevangelium sie uns überliefert. Das allerdings stellt sie in ein eigenes Licht.
An zwei Stellen schimmert es vielleicht im Gleichnis selbst durch. Abraham spricht den Mann im Hades als „Kind“ an. Damit macht er ihn nicht – weil, wer die Qual hat, für den Spott nicht zu sorgen brauchen soll – auch noch klein. Im griechischen Text steht nicht etwa das „παῖς“ aus der Pädagogik oder „παιδίον“, das kleine, unmündige Kind. Da steht „τέκνον“, das ist der Abkömmling, aus Abrahams Mund ist das eine Würdigung als Teilhaber an der Verheißung, die „Abrahams Samen“ insgesamt gegeben ist. Davon hat der Mann im Hades zwar nichts; Abraham erklärt ihm ja gerade, daß er den Zugang zu dieser Verheißung verwirkt hat. Und doch spricht er ihn noch darauf an, indem er „Kind“ zu ihm sagt, ihn als einen anredet, dem es eigentlich bestimmt ist, in Abrahams Schoß zu ruhen.
Der zweite kleine Lichtschimmer ist Abrahams Gedankenspiel über den Eindruck, den einer bei den Menschen machen würde, der von den Toten auferstünde: Wer schon nicht auf Mose und die Propheten hört, der wird „sich auch nicht überzeugen lassen, wenn jemand von den Toten auferstünde“, sagt er. Könnte es sein, daß in Jesu Gleichnisrede hier doch eine kunstvolle ironische Anspielung auf sich selbst untergebracht ist? Und was ist der Eindruck, den die Botschaft vom auferstandenen Jesus auf uns macht? – Wäre eine Beweisführung über das leere Grab der Grund unseres Glaubens, hätten wir ähnliche Probleme wie mit den Jenseitsspekulationen über Höllenfahrt und Engelslift. Aber der Grund unseres Glaubens ist kein spekulativer Beweis vom leeren Grab, auch nicht das Gesetz nach Mose und den Propheten an und für sich, sondern wir haben zum Gesetz das Evangelium von Jesus Christus als unserem Erlöser, und das bedeutet etwas für das, was wir im Gleichnis von Lazarus und dem Reichen erzählt bekommen.
Die Darstellung des Evangeliums von der Vergebung der Sünden geht denn auch im Lukasevangelium der Gesetzespredigt in Kapitel 16 voraus und folgt ihr nach: Das Kapitel 15 stellt es in Gleichnissen wie dem vom verlorenen Sohn vor, der „tot war und wieder lebendig geworden ist“ [Lk. 15, 24]. Das Kapitel 19 erzählt von der Begegnung des Zachäus mit Jesus [Lk. 19, 5–10]: Diesen Sünder holt Jesus vom Baum, um in sein Haus einzukehren, was die gesetzestreuen Gerechtigkeitsverwalter zum Murren finden. Nach der Begegnung mit Jesus gibt Zachäus von seinem Besitz die Hälfte den Armen, und Jesus erklärt: „Heute ist diesem Hause Heil widerfahren, denn auch er ist ein Sohn Abrahams. Denn der Menschensohn ist gekommen, zu suchen und selig zu machen, was verloren ist.“
Das ist eine neue Ansage zur „großen Kluft“, von der Abraham behauptet, „daß niemand, der von hier zu euch hinüberwill, dorthin kommen kann und auch niemand von dort zu uns herüber“. Jesus Christus kann und tut es eben doch. Das ist das Evangelium. Damit ist sein Gleichnis nicht etwa erledigt. Weil niemand, der in Abrahams Schoß geborgen werden will, dort selbst hinkommen kann, kommt es auf Jesus Christus allein an. Erst das Gesetz mit der Verdammnis der Sünden gibt der Vergebung der Sünden durch Jesus Christus ihren Sinn. Erst das Evangelium von der Vergebung der Sünden durch Jesus Christus gibt dem Gesetz seinen Sinn.
Da findet auch die Verantwortung für unser Leben ihren Ort, auf die das Gleichnis vom reichen Mann aufmerksam macht, der dem armen Lazarus besser etwas zu essen hätte geben sollen. Wir haben Mose und die Propheten, wir haben vor allem ihre jesusmäßige Zusammenfassung im Gebot der Liebe, und wir lassen uns sagen, daß wir dafür verantwortlich sind, dem Gebot der Liebe in unserem Leben gerecht zu werden. Einen Sinn gibt das für uns zusammen mit dem Evangelium, in dem Gott selbst uns durch Jesus Christus dieser Verantwortung gerecht zu machen verheißt. Dazu paßt es dann zum Beispiel auch, etwas in unsere Kollekte für die Hallische Tafel zu geben – nicht um mit einem nicht ganz so ungerechten Reichen oder mit dem armen Lazarus die Rollen zu tauschen, nicht um uns damit einen Platz in Abrahams Schoß zu reservieren, nicht aus Höllenangst vor dem Ende aller Dinge, sondern furchtlos und fröhlich, wie Zachäus: weil uns Heil widerfahren ist.
Amen.