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Auge um Auge (Mt 5,38-42)


Predigt von Prof. Dr. Joachim Renzikowski zum Universitätsgottesdienst am 09. November  2025


„Auge um Auge", wie archaisch, wie anachronistisch. Eine junge Frau weist die Anträge eines Mannes zurück. Der enttäuschte Verehrer rächt sich mit einem Säureanschlag. Die Frau verliert ihr Augenlicht, ihr Gesicht ist völlig entstellt. Der Täter wird von einem iranischen Gericht dazu verurteilt, dass er sich vom Opfer blenden lassen muss. An einem festgesetzten Tag darf ihm die Frau mit einer Pipette Säure in die Augen träufeln, wie es der Grundsatz der Wiedervergeltung in der Scharia vorsieht. Die Frau hat dann im letzten Augenblick im Gegenzug für eine Ausgleichszahlung auf die Vollstreckung dieses Urteils verzichtet. Auge um Auge, wortwörtlich – wie barbarisch, wie unmenschlich.

Hinrichtungstermin in Huntsville, Texas. Vor dem Gefängnis wird demonstriert. Auf der einen Seite der Straße stehen die Gegner der Todesstrafe mit ihren Plakaten: „Abolish the death penalty" „No more killing"; ihnen gegenüber stehen Befürworter mit Plakaten: „Eye for eye, tooth for tooth", nicht selten Evangelikale. Was, bitte, soll daran christlich sein?

Aber denken und fühlen wir denn wirklich anders? „Drei Jahre Gefängnis für Kinderschänder" steht in der Zeitung, und insgeheim denken viele: Während das Opfer sein Leben lang unter dem Missbrauch leidet, kommt der Täter nach drei Jahren wieder raus. Das ist doch nicht gerecht? „Wegsperren, und zwar für immer" klingt da schon viel besser. Und wenn man in so einem Fall die Leute auf dem Marktplatz in Halle fragen würde, was sie sich unter einer gerechten Strafe vorstellen, würde man einiges zu hören bekommen.

Vielleicht ist es an der Zeit, etwas zur Rettung von „Auge um Auge, Zahn um Zahn" zu sagen. Die ältesten schriftlichen Belege für das sogenannte Talionsprinzip finden sich in sumerischer Keilschrift um das 2. Jahrtausend vor Christus. Natürlich geht es um die Todesstrafe für Mord, wie sie später häufig in Strafgesetzen kodifiziert wird, aber schon früh findet man höchst detaillierte Regelungen für abgestuften Schadensersatz, so übrigens auch bei den Sumerern oder im Codex Hammurapi, ca. 1800 Jahre vor Christus.

Betrachten wir das Original genauer. Exodus 21 enthält eine Fülle von Fallfragen nebst ihrer rechtlichen Bewertung. Der erste Satz lautet: „Das sind die Rechtsentscheide, die du ihnen vorlegen sollst." In Exodus 21, 23-25 heißt es: „Ist weiterer Schaden entstanden, dann musst du geben: Leben für Leben, Auge für Auge, Zahn für Zahn, Hand für Hand, Fuß für Fuß, Brandmal für Brandmal, Wunde für Wunde, Strieme für Strieme." Bemerkenswerterweise kennt die jüdische Tradition keinen Fall einer körperlichen Talion, einmal abgesehen von der Todesstrafe für Mord, sondern alle anderen Beispiele beziehen sich auf angemessenen Schadensersatz, etwa Exodus 21, 18-19: „Wenn Männer in Streit geraten und einer den anderen mit einem Stein oder einer Hacke schlägt, so dass er zwar nicht stirbt, aber bettlägerig wird, wieder aufstehen und ausgehen kann an seinem Stock, so soll der, der ihn schlug, nicht bestraft werden, ihm aber bezahlen, was er versäumt hat, und das Arztgeld geben." Und dann ist auch klar: Die Entschädigung für den Verlust eines Auges ist höher als für den Verlust eines Zahnes; eine blutende Verletzung kostet mehr als eine Schürfwunde.

In der rabbinischen Überlieferung geht es um einen finanziellen Ausgleich, der sich nach der Höhe des verursachten Schadens richten soll, und gerade nicht um Wiedervergeltung. „Sage nicht: Was er mir angetan hat, will ich ihm antun, ich will ihm vergelten nach seinem Tun", Buch der Sprüche, 24, 29. Also keine Selbsthilfe, sondern Leitidee ist die Wiederherstellung des Rechtsfriedens zwischen Schädiger und Geschädigtem durch ein Verfahren vor Gericht. Vergeltung wird im Sinne eines Ausgleichs zwischen Täter und Opfer gedacht. Bemerkenswerterweise macht die Thora dabei – viel fortschrittlicher als spätere Rechtsordnungen – keinen Unterschied zwischen Männern und Frauen, zwischen Freien und Sklaven: Vor dem Gesetz zählen alle gleich.

Wenn es nun in Genesis 9, 6 heißt: „Wer Menschenblut vergießt, dessen Blut soll durch Menschen vergossen werden; denn nach seinem Bilde hat Gott den Menschen geschaffen", dann wird dieser Vers in dem Sinne verstanden, dass das Leben – und nur das Leben – eben nicht kommensurabel ist. Man könnte sich dann freilich auch fragen, ob das nicht ein Argument gegen die Todesstrafe ist.

Jedenfalls bedeutet „Auge um Auge" alles andere als eine primitive, grausam alttestamentliche Vergeltung. Im Gegenteil: Eine historische Deutung läuft darauf hinaus, dass das Talionsprinzip die damals verbreitete, potentiell grenzenlose Stammes- und Familienrache beenden sollte. Das Talionsprinzip hat auch nichts mit Körperstrafen wie Dieben die Hand abzuhacken usw. zu tun; das ist ganz offensichtlich keine Talion. Auf der anderen Seite stößt eine wörtliche Anwendung des Talionsprinzips sehr schnell an Grenzen: Was soll etwa einem Diebstahl entsprechen? Die Rückgabe der Diebesbeute? Wo bleibt dann aber der Strafteil? Zwangsarbeit zur Wiedergutmachung? Das ist etwas anderes als das Gegenstück zur Wegnahme. Und welche Körperstrafe soll bei Sexualdelikten angemessen sein? Die Fokussierung auf eine Geldbuße, die nicht immer von Schadensersatz zu unterscheiden ist, leuchtet also prima facie ein. Aber damit verschiebt sich das Problem ja nur. Welche Summe ist die gerechte Entschädigung für den Verlust eines Auges, des Gehörs, für eine Querschnittslähmung? Die sogenannten Schmerzensgeldtabellen sind doch bestenfalls eine Annäherung – aber an was?

Wir sehen also, das Talionsprinzip gehört zu den ältesten Überlieferungen und ist in unsere DNA eingebrannt, im Kollektivgedächtnis der Menschheit tief verwurzelt. Aber mit der ausgleichenden Gerechtigkeit, die es bei deliktischen Schäden verkörpert, ist es nicht so einfach. Und vielleicht könnte gerade dieser Umstand die rechtspolitische Erkenntnis befördern, dass das Strafrecht nicht die Lösung aller Rechtsprobleme sein kann.

Ich möchte noch einen weiteren Aspekt ansprechen. Auge um Auge, Zahn um Zahn verkörpert neben der ausgleichenden Gerechtigkeit ein weiteres Grundprinzip der Gerechtigkeit: Gegenseitigkeit. Was ich für mich beanspruche, muss ich auch allen anderen zugestehen. „Wie du mir, so ich dir" – oder englisch „tit for tat". Im Jahr 1984 beschreibt der amerikanische Politikwissenschaftler Robert Axelrod in seinem Buch „The Evolution of Cooperation", dass die Strategie des „tit for tat" bei spieltheoretischen Experimenten die besten Werte erzielt, wenn es darum geht, Kooperation sicherzustellen. Auf Kooperation wird mit Kooperation reagiert, auf Konfrontation mit Konfrontation. Diese Strategie ist erfolgreicher als „two tits for one tat" oder „on tit for two tats". Mit anderen Worten: Übermäßige Vergeltung ist schlecht, aber Nettigkeit kann sehr kontraproduktiv sein. Der heutige Predigttext spricht eine andere Empfehlung aus.

Bevor ich dazu komme, möchte ich den letzten Satz betrachten: „Gib dem, der dich bittet, und wende dich nicht ab von dem, der von dir borgen will." Hier klingt die Verteilungsgerechtigkeit an: Jedem soll gegeben werden, was ihm gebührt – Ehre dem Verdienst, Unterstützung dem Bedürftigen – lateinisch „suum cuique", übersetzt „Jedem das Seine". Dieser Spruch stand – und damit ist ein gewisser Bezug zum 9. November hergestellt – auf dem schmiedeeisernen Tor des Konzentrationslagers Buchenwald und konnte vom Appellplatz aus gelesen werden, richtete sich also direkt an die Lagerinsassen. Drastischer konnte die Menschenverachtung, die aus dieser Perversion der Verteilungsgerechtigkeit spricht, kaum demonstriert werden.

Die größten Schwierigkeiten, wie ich gestehen muss, habe ich mit dem Mittelteil: „Ich aber sage euch: Widersteht dem Bösen nicht; sondern: Wenn dich jemand auf die rechte Wange schlägt, dem halte auch die andere hin. Und wenn jemand mit dir vor Gericht gehen und dein Untergewand nehmen will, so lass ihm auch den Mantel. Und wenn dich jemand nötigt, eine Meile mit ihm zu gehen, so geh mit ihm zwei." In den Ohren der Opfer des russischen Überfalls auf die Ukraine – gezielte Bombardierungen von Kliniken, Schulen und Kindergärten, Massenvergewaltigungen und Ermordung von Zivilisten in Butscha und anderswo, Verschleppung tausender Kinder, Folterlager in besetzten Gebieten – muss das wie blanker Hohn klingen. Ich denke an die Inschrift über dem Eingang zum Landgericht Halle: „Recht muss Recht bleiben".

Ich habe eine theologische Deutung dieser Passage gefunden. Ihr zufolge stellt Jesus nicht die Unterscheidung von Recht und Unrecht oder die Geltung des Taliongebots in Frage, sondern versucht, seinen ursprünglichen Sinn in einer anderen Richtung zu bewahren. Während der römischen Besatzungszeit konnten die Juden vor römischen Gerichten gegen Rechtsverletzungen der römischen Besatzer keinen Rechtsschutz erlangen. Das wird in dem Satz über die Meile deutlich. Im altgriechischen Original steht dort nämlich ἀγγαρεύειν. Dieses Wort bedeutet in dem Kontext eigentlich, dass jemand zum Frondienst gezwungen wird. Also: „Und wenn dich jemand eine Meile zum Frondienst nötigt, so gehe mit ihm zwei." Dagegen konnte man nichts machen. Also werden die Juden aufgefordert, gegenüber der von den Römern verkörperten Herrschaft des Bösen auf Gegengewalt zu verzichten und ihnen stattdessen mit Feindesliebe begegnen, um so eine Spirale von Gewalt und Gegengewalt zu vermeiden. Da das Reich Gottes nahe sei, konnte man umso leichter den feindlichen Gewalttaten mit Wohltätigkeit begegnen, denn das Ende der Unterdrückung und die Wiederherstellung des Rechts, nicht durch Menschen, sondern durch Gott, war absehbar.

Eine andere Interpretation versteht insbesondere die Aufforderung, auch die andere Wange hinzuhalten, als Aufruf zu radikaler Gewaltfreiheit. Im altgriechischen Originaltext steht: „μὴ ἀντιστῆναι τῷ πονηρῷ". „Leistet dem Übeltäter keinen Widerstand." Das kann man freilich leicht verlangen, wenn man sich an den Staat und die Gerichte wenden kann. So entspricht das nicht nur der rabbinischen Tradition, sondern im Rechtsstaat ist das eine Selbstverständlichkeit. Private Selbsthilfe soll ausgeschlossen sein; das Gewaltmonopol hat der Staat.

Aber dann steht im Predigttext ja auch dieser Satz: „Und wenn jemand mit dir vor Gericht gehen und dein Untergewand nehmen will, so lass ihm auch den Mantel." Einverstanden, ich muss nicht wegen jeder Kleinigkeit eine Klage einreichen – was übrigens auch die Richter freuen würde. Aber das Untergewand bezeichnet keine Kleinigkeit, sondern etwas, das mir buchstäblich nahegeht. Auch dann soll ich auf Rechtsschutz verzichten und als Klügerer nachgeben?

Bei der wiederholten Lektüre des Predigttextes kam mir noch eine weitere Assoziation. Man könnte den Text auch als Gegenüberstellung von zwei Haltungen verstehen, Gerechtigkeit als Tugend sozusagen. Die Haltung des „Wie du mir, so ich dir" ist defensiv, abgrenzend. Jeder sitzt in seiner eigenen Burg und zieht die Zugbrücke hoch, auf, dass ihm bloß keine Unbill widerfahre. Das ist die Gerechtigkeit der Friedhofsstille. Das ist „Maschen-Draht-Zaun": Wenn der Strauch des Nachbarn meinen Zaun berührt, verklage ich ihn. Die Gerichte können ein Lied über eskalierende Nachbarschaftsstreitigkeiten singen. Das stiftet kein friedliches Miteinander, sondern ewige Feindschaften.

Stattdessen: „Wenn dich jemand nötigt, eine Meile zu gehen, so geh mit ihm zwei." Vielleicht hat er einen guten Grund dafür. „Gib dem, der dich bittet." Verbarrikadiere dich nicht in deiner eigenen Rechtsburg, sondern frage nach dem Bedürfnis des anderen. Statt Selbst-Gerechtigkeit Mitmenschlichkeit. Schließlich sind wir alle aufeinander angewiesen. Das fängt schon im Kleinen an. Ich kann dem Eiligen den Vortritt lassen, an der Supermarktkasse, beim Einsteigen in die Straßenbahn oder den Zug. Da muss ich nicht mitdrängeln: „Bitte, nach Ihnen." Oder: Ich kann dem anderen Autofahrer die Vorfahrt geben, ihn einfädeln lassen, ihn vorbeiwinken.

In zwei Tagen ist das Sankt Martin. Nicht nur Laternen und Gänsebraten, sondern: „Gib dem, der dich bittet."

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